Verkehr, Wirtschaft und Urbanität
Gastkommentar „Die Welt“ , 18.7.2000
Hans-Henning von Winning
Eigenheime und Fabrikhallen, Einkaufsmärkte und Freizeitcenter seien ökonomisch und technisch fortschrittlicher, wenn sie irgendwo, mit Autobahnanschluß, erdgeschossig, und mit viel Platz drumherum errichtet werden. Überholt sei die europäische Urbanität mit Dichte und Nähe, mit Vielfalt, Mischung und öffentlichen Straßenräumen, mit höchsten Wahlfreiheiten. Urbanität, die seit Jahrtausenden der Mobilität durch die ökonomisch und ökologisch hocheffizienten Verkehrsmittel dient. Den Bauherren oder Investoren scheint das zu eng, zu teuer, zu wenig mobil. Sie verlassen sich voll und ganz auf die Automobilität nach heutigen Preisen.
Aber diese Entscheidung ist in der Bilanz der Mobilität höchst fragwürdig und außerdem hochparasitär. Die Autofahrer zahlen nämlich im Durchschnitt kaum ein Drittel ihrer direkt verursachten Kosten, auch ohne die in der Höhe umstrittenen Umweltkosten. Kernpunkt der Fehlberechnungen ist nämlich die Benutzung der vorhandenen Straßen und Parkplätze. Betriebswirtschaftlich korrekt müßten die Autofahrer jährlich etwa 250 Mrd. DM allein für die Verzinsung und Abschreibung zahlen, 10% eines Vermögens von grob geschätzt 2.500 Mrd. DM. Wahrlich nicht Peanuts, sondern die Größenordnung der Summe aller Zinsverpflichtungen aller öffentlichen Haushalte.
Die Straßen gehören Bund, Länder und Kommunen. Diese und nicht die heutigen Autofahrer - sind die Erben der Steuerzahler von 1930 bis 1970, als das System errichtet wurde. Die Gebietskörperschaften überlassen eines ihrer größten wirtschaftlichen Vermögen gegen jede wirtschaftliche Rationalität und gegen die Interessen ihrer Bürger kostenlos willkürlichem Interessentenzugriff. Damit werden alle, die das System sparsamer nutzen wollen, benachteiligt. Die Nachfrage wird völlig verfälscht und künstlich erhöht, weil sie nicht an der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher gemessen, sondern durch Planer- oder Politikerweisheit festgelegt wird.
Aber auch das Angebot an Verkehrsinfrastruktur wird schon im Vorfeld künstlich verfälscht: Unter staatlichem Schutz verhindern monopolisierte Technikstandards, daß kosten- und flächensparende Lösungen, z.B. mit Tempolimits, überhaupt als Alternative angeboten und erlaubt werden.
Aber es gibt noch einen zweiten Kardinalfehler der Ökonomie des Verkehrswesens, nämlich die fehlenden Preisunterschiede zwischen urbanen und suburbanen Verkehren. Straßenbaukosten liegen bei etwa 200 DM/qm. Damit ist der Preis der Fläche auf dem Lande von vielleicht 10-20 DM/qm fast bedeutungslos. Wo aber der Grund wertvoll und zur Nachverdichtung als Bauland geeignet ist, kostet er leicht nochmals 200 oder in hochattraktiven Stadtlagen auch 2.000 DM/qm und mehr. Das aber erhöht die Straßenkosten dort um den Faktor zwei bis zehn. Solange die Verkehrspreise diese Relation nicht widerspiegeln, rücken die Städte von innen her auseinander mit katastrophalen Folgen für Mobilität und Erreichbarkeit. Hier zeigt sich übrigens auch, warum die Umlegung der Autokosten auf den Benzinpreis („5DM/l“) so unangemessen ist: In urbanen Lagen wäre das immer noch zu wenig, und in suburbanen Lagen wahrscheinlich viel zu viel.
Die Analyse zeigt: Fast ein Jahrhundert ungebrochene staatliche Funktionärswirtschaft haben das Autosystem viel zu groß, viel zu teuer, strukturell völlig schief und zunehmend funktionsunfähig gemacht.
Es ist eine Verkehrsreform überfällig, die endlich wirklich marktwirtschaftliche Mechanismen einführt: Messung der Nachfrage an der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher; Preise nach Kosten und Knappheiten; Transparenz von Kosten und Preisen zur öffentlichen Kontrolle von unvermeidlichen Gebietsmonopolen und zur Bewertung von Verkehrsregelungen; schließlich offenen Wettbewerb für Technikstandards, damit auch vielfältige angepaßte, kosten- und flächensparende Lösungen zum Zuge kommen. Ein Schlüssel dafür ist sicher ein Road-Pricing-System, satelliten- und mobilfunkgestützt, datengeschützt und flächendeckend für alle Straßen und Parkplätze. Und natürlich müssen sich auch viele andere Transportsysteme einer ähnlichen technisch-wirtschaftlichen Effizienzreform unterziehen, einschließlich Schiene und Luft, Information und Energie. Denn Entfernung ist teuer. Aber ihre Überbrückung ist zu bedeutend, als daß man sie aus den Vorteilen der Marktwirtschaft ausklammern sollte.
Dann wird auch die europäische Urbanität einen ungeahnten Nachfrageschub erhalten. Denn die Tendenzen zur Zwischenstadt, zur Auflösung und Beliebigkeit sind eben nicht die Folgen von technischem Fortschritt, Emanzipation und freier Wirtschaft, sondern von bald jahrhundertelanger staatlicher Kostenverschleierung, Gängelung, Mißwirtschaft, und Technikverfälschung. Die Rendite einer solchen politischen Reformanstrengung wird mehr Mobilität, mehr Wahlfreiheit und mehr wirtschaftlicher und kultureller Reichtum sein.