Verkehr - Garant von Reichtum und Ende der Stadt?
Hans-Henning von Winning,
Dresden, 30.6.2000
Die europäische Stadt war und ist Garant effizienter Mobilität
Wesentliche Zielsetzung der Lage von Siedlungen und ihrer städtebaulichen Ordnung ist Mobilität im Sinne von Wahlfreiheit und Erreichbarkeit. Die europäische Stadt ist dabei besonders erfolgreich gewesen. Die wichtigsten Merkmale sind dabei Lage unmittelbar an Haltepunkten, höchste Dichten bei angemessenem Freiflächenanteil, funktionale Mischung im Straßen- und Quartiersmaßstab, sowie die Öffentlichkeit und Offenheit von Straßenräumen und Straßennetzen.
Nur unter diesen Bedingungen bestehen im Nahbereich hohe Wahlmöglichkeiten zu Fuß und mit dem Fahrrad - andernfalls sind mit diesen Verkehrsmittel erheblich weniger Ziele mit gleichem Aufwand und Komfort erreichbar. Und nur unter diesen Bedingungen kann ein Öffentlicher Verkehr effizient organisiert werden: Ohne sehr viele Fahrgäste an jedem Haltepunkt bleibt das Bedienungsangebot zwangsläufig zu teuer oder zu langsam oder zu unattraktiv.
Dieser Zusammenhang ist keine historische Sentimentalität, sondern technisch-wirtschaftliche Gesetzmäßigkeit für die Forderung nach nachhaltiger Mobilität. Alle Versuche, mit Schnittstellen, Car-Sharing, People-Movern, usw auch der "Zwischenstadt" Mobilität zu beschwören, gehören leider in das Reich des Metatransits. Jede Einschränkung der physischen Haupteigenschaften der europäischen Urbanität, für die natürlich auch immer wieder vielfache Gründe sprechen, muß mit beachtlichen Mobilitätseinschränkungen erkauft werden.
Der Autoverkehr in Städten ist durch staatliche Eingriffe drastisch überhöht
Die bedeutendste Einschränkung von Dichte, Mischung und Öffentlichkeit ist durch massenhaften Autoverkehr bedingt. Einerseits verspricht das Auto dem Benutzer, er könne sich selbst die Nachteile der Urbanität ersparen und trotzdem hocherreichbar sein; andererseits beschränkt das Auto durch Unverträglichkeit die Mobilität der Betroffenen in urbanen Bereichen.
Nun wird gerade im Autosystem die Nachfrage durch staatliche Eingriffe und Gelder künstlich und drastisch erhöht: Der Autonutzer zahlt nur einen Bruchteil der tatsächlich anfallenden Kosten. Er zahlt etwa ein Drittel der Gesamtsystemkosten: nämlich Fahrzeugverzinsung und -abschreibung, Betriebsmittel, sowie seine Steuern. Letztere reichen mit rund 80 Mrd. DM p.a. gerade für den Unterhalt des Gesamtsystems und ein relativ zum Bestand marginales Neubauvolumen. Ein weiteres Drittel, die Umwelt- und Sozialkosten, tragen auch nicht die Nutzer, sondern die Renten- und Krankenkassenzahler, die Leidtragenden von Lärm, Abgasen, und Erschütterungen, und die Steuerzahler.
Die größte Verfälschung der Nachfrage aber entsteht dadurch, daß die Straßen und Parkplätze von den Eigentümern - nämlich den Gebietskörperschaften - umsonst oder nahezu umsonst angeboten werden. Deren Verzinsung und Abschreibung beträgt mit rund 250 Mrd. DM p.a. ebenfalls etwa ein Drittel der laufenden Gesamtkosten des Systems. Dieser Anteil ist aber in wertvollen urbanen Bereichen noch wesentlich höher: Nicht zuletzt wegen der guten Erreichbarkeit liegen dort allein die Grundstückskosten von 200 oder auch 2000 DM/qm beim zwei- bis zehnfachen der reinen Straßenbaukosten. Ihre marktkonforme Anrechnung an die Nutzer dieser Flächen müßte auch die Preise einer Straßennutzung gerade dort entsprechend erhöhen. Erst dann wäre die Nachfrage eine legitime Entscheidungsgrundlage für die Dimensionierung der Netze und Anlagen.
Die Vermutung scheint kaum widerlegbar, daß gerade bei Anwendung allgemein anerkannter Prinzipien einer freien, vielleicht auch sozialen und ökologischen Marktwirtschaft, die Nachfrage nach Autoverkehr, besonders nach Autoverkehr in Städten, und besonders nach dem extrem teuren Hochgeschwindigkeitsverkehr erheblich sinken würde. Die Hälfte des heutigen Volumens dürfte für manche Bereiche eine sehr plausible Annahme für eine zukünftige Größenordnung sein; die andere Hälfte des heutigen Verkehrsvolumens im städtischen Autoverkehr ist danach Folge staatlicher bzw. gesetzlicher Preiseingriffe und Kostentransfers.
Zersiedelung und Stadtauflösung verringern Mobilität und Reichtum
Desurbanisierung - also Entdichtung vorhandener urbaner Strukturen und disperser Neubau haben für Bauherr und Nutzer einige Vorteile: weniger Aufwand für Treppen, Konstruktionen, Nachbarschutz, mehr Licht, Luft, und Flächenreserven, mehr Bewegungsfreiheit mit Fahrzeugen und Gabelstaplern, schließlich mehr Möglichkeiten für hochspezialisierte Großeinrichtungen. Das gilt ähnlich für Wohnen und Gewerbe, für Einkauf und Freizeit.
Alle rechnen aber nicht dagegen den Verkehrsaufwand - für Auto und zum Teil auch öffentlichen Verkehr, der wiederum besonders im suburbanen Raum besonders hoch subventioniert ist. Denn den müssen sie ja nur zum geringen Teil selbst bezahlen, haben ihn schon bezahlt oder müssen ihn ohnehin bezahlen über ihre Steuern, Mieten, Renten- und Krankenkassenbeiträge. Wer also weniger oder sanfter (Auto) fährt, und urban lebt, macht hohen Verlust und überläßt den noch dazu spärlichen Gewinn den Mitbürgern.
So entstehen immer mehr Siedlungs- und Verkehrsstrukturen, die in der Bilanz weniger Mobilität im Sinne von Wahlmöglichkeiten und Erreichbarkeiten habe. Solange nicht nur die Standort-, sondern auch die Verkehrsentscheidungen frei, marktwirtschaftlich und ohne staatliche Verkehrswachstumsideologie getroffen werden können, ist die Vermutung kaum widerlegbar, daß das Maß der Suburbanisierung bereits heute weit überzogen ist.
Damit produziert die Verkehrspolitik nicht nur unnötig hohe Verkehrskosten und -schäden; sie behindert darüberhinaus sozialen, kulturellen und ökonomischen Reichtum, sofern er auf Mobilität und die Erreichbarkeit großer Märkte angewiesen ist.
Verkehrsreform: Road+Park-Pricing und Wettbewerb bei Technikstandards
Es ist eine Reform des gesamten Verkehrswesens überfällig, wie sie etwa der Stadtplanerverband SRL (s. PlanerIn November 1999) vorgeschlagen hat. Die Leitideen wären dabei die Anwendung der allgemein unumstrittenen Prinzipien einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft: Transparenz und Anrechnung aller Kosten an die Nutzer; Messung der Nachfrage an der Zahlungsbereitschaft der Nutzer; Neuinvestitionen nur bei rentierlicher Vollkostenrechnung; Preiskalkulation nach Kosten, freien Kapazitäten und Knappheiten; schließlich die Förderung des Wettbewerbes und Verhinderung von Monopolen bei den Angeboten von verkehrstechnischen Anlagen, Normen, Regeln und Standards.
Im Autoverkehr hätte das die Einführung eines flächendeckenden, GPS/UMTS-gestützten, datengeschützten Road+Park-Pricing-Systems zur Folge. Die Preise würden vor Allem die starken Grundstückskostenunterschiede in attraktiven Stadtlagen widerspiegeln. Marktkonform würden die Erlöse den Straßeneigentümern, nämlich den Gebietskörperschaften zugute kommen. Die Erlöse wären Zinsen und (Minimal-)rendite für ihr eingesetztes Kapital; völlig abwegig wäre, daraus eine Zweckbindung abzuleiten - und schon gar nicht zur Erweiterung des Autosystems, das ja, wie man feststellen würde, bei weitem keine Vollkostenrendite abwirft.
Eine weitere Folge wäre, daß endlich auch angepaßte Standards für Fahrzeuge, Verkehrsanlagen und Regelungen diskutiert würden, die die Verkehrskosten drastisch reduzieren würden. Ein befriedeter Autoverkehr mit standardisierten Beschleunigungs- und Tempolimits würde sich als so kostensparend erweisen, daß seine Einführung deutliche Mehrheiten fände.
Fazit: Die Tendenzen zur Auflösung der europäischen Struktur der Städte sind nicht Folge von technischem Fortschritt und freier Wirtschaft. Vielmehr sind sie Folge jahrzehntelanger staatlicher Ideologie, Funktionärs-Mißwirtschaft, Kostenverschleierung und Technikverhinderung. Das gilt für nahezu alle Infrastrukturen und Regelungen derjenigen Techniken, mit denen Entfernungen überbrückt werden: Güter, Personen, Information und Energie. Eine grundlegende Verkehrsreform könnte Wahlfreiheit, Mobilität und kulturellen Reichtum wiedergewinnen; nachhaltige Stadtstrukturen würden intensiv nachgefragt werden und müßten nicht mehr mit geringem Erfolg gegen den Markt durchgesetzt werden.