Autoland oder Städtekultur -

Amerikanische Verhältnisse in Nordhessen, Deutschland, Europa?

Kürzlich beklagte "DIE ZEIT" nur mäßig, Nordhessens alte Stadtkerne seien schön renoviert, aber bedeutungslos. Denn das moderne Leben, der Kampf um Kommerz und Kultur, spiele sich eben ab zwischen Suburbia und Autoverkehrswachstum. Tatsächlich ist es wieder Mode geworden, Einwände gegen diese Siedlungs- und Lebensform als realitätsfremde Öko-Tümelei abzutun.

Dagegen setzt der Verfasser acht nüchterne Thesen. Danach wird es zwar weiter "Autoland" geben - für eine Reihe von Hilfsfunktionen mit relativ untergeordneter Bedeutung. Sozialer kultureller, ökologischer und vor allem ökonomischer Fortschritt wird aber da stattfinden, wo sich Städte unter Kultivierung und Selbstbegrenzung des Autoverkehrs reurbanisieren und vernetzen. Denn dort winkt der Gewinn von einem Drittel weniger Schäden, Kosten und Zeitaufwand für Verkehr. Jenseits der Schablone "Pro und contra Auto" könnte damit die festgefahrene Verkehrsdiskussion in Kassel, Nordhessen und darüberhinaus neue, sachliche Impulse bekommen.

1. Fußgänger, Rad und Öffentlicher Verkehr: Leistungsfähig bei Dichte, Mischung und vernetzten, öffentlichen Straßen

Die klassischen Eigenschaften der europäischen Stadtbautradition sind unverzichtbar für hohe Erreichbarkeiten. Dichte heißt mehr Ziele in der Nähe; mehr Fahrgäste tragen zu einem besseren ÖV-Angebot bei. Mischung sorgt für bessere Auslastung von Bahnen und Bussen, von Straßen und Parkplätzen über Tag, Woche und Jahr - und damit auch für ein besseres Angebot auf kleinerer Fläche (also bei höherer Dichte!) und mit weniger Kosten. Öffentliche Straßennetze ermöglichen sichere, direkte Wege und sparsame Mitnutzung als notwendige Erschließungs- und Freiflächen im Umfeld der Bebauung. So wird zum Einen Basismobilität für sehr viele nicht allzu spezifische Ziele höchst ökonomisch und ökologisch sichergestellt; zum Zweiten bietet nur dieses System ausreichend Mobilitätsangebote für die Verkehrsteilnehmer, die ihre Reisezeit hochproduktiv nutzen - an Buch/Computer und Telenetz - und zwar in hochkomfortablen Öffentlichen Verkehrsmitteln der Zukunft. Jedes Auseinanderrücken, jede verschwendete Hilfsfläche, jede umzäunte Monostruktur, und jede Sackgasse mindert die Effizienz dieser Mobilität und der Siedlungsform "Stadt".

2. Autoverkehr: Leistungsfähig bei flächiger Siedlung

Genau das Gegenteil macht den Autoverkehr leistungsfähig: der ebenerdige Parkplatz, ebenso groß wie das erschlossene Gebäude mit höchstens eineinhalb Geschossen - so wünschen es Bauherren von Gewerbe- und Einkaufszentren, von Wohn- und Freizeitparks. Denn dies bietet bestmögliche Auto-Erreichbarkeit. Und die resultierenden Entfernungen sind ja für das Auto kein Problem: es verspricht 30 km in 20, sogar 10 Minuten zu minimalen Kosten.

Je lockerer die Siedlung, umso mehr Platz für den Autoverkehr. Aber auch: umso mehr Autoverkehr, denn die Erreichbarkeiten ohne Auto sinken. Wenn dann das Autosystem für mehr als die sinnvollen Zwecke übernutzt wird, verringert sich die Summe der Erreichbarkeiten; alle ökologischen und ökonomischen Ziele werden verfehlt.

3. Stadt-Umland-Verkehr: Ökonomisch und ökologisch am wenigsten lösbar

Angesichts des Dichte-Dilemmas wird die Hoffnung auf "intelligente Schnittstellen" gepflegt - leider vergebens. Das Auto beansprucht in der Verdichtung zu viel teuren Platz; am P&R-Platz ist es kaum billiger, wenn das ÖV-Angebot dort gut ist. Bus und Bahn in der Dispersion aber führen leer oder mit unzumutbarem Takt, wenn die Fahrgäste den wahren Preis bezahlen müßten. Gerade "Aus-der-Stadt" und "In-die-Stadt" funktioniert nur extrem aufwendig und hoch subventioniert; böse ausgedrückt hochparasitär: so ist es auch nicht erstaunlich, daß diese Verkehre - weil künstlich stark verbilligt - so stark nachgefragt werden.

In einer ökonomischeren Zukunft kann es zwar weiter enge, komfortable Stadt-Umland-Beziehungen geben: aber deutlich teurer, deswegen seltener, und vermutlich mit anderen Zeitrhythmen.

4. Erreichbarkeit im Stadtverbund, Autofreiheit in Suburbia

Nur bei wahrer Kostenzurechnung können und werden die Bürger sich für wirklich ökonomische - und auch ökologische - Mobilität entscheiden. Innerhalb und zwischen städtischen Bereichen wird dann höchste Erreichbarkeit, höchste Wahlfreiheit herrschen; zu Fuß, auch mit dem Rad, vor allem aber mit höchsteffizienten und hochkomfortablen Massenverkehrsmitteln - Bussen und Bahnen, über kurze oder lange Distanzen, schnell, und wegen bester Auslastung zu günstigsten Preisen.

Bewegungsfreiheit mit dem Auto wird möglich sein innerhalb und zwischen dispersen Siedlungen. Auch hier werden globale Umweltwirkungen strengere Standards erfordern. Dennoch bleibt dort das Auto Hauptträger der Mobilität. Da es aber nur begrenzt die Verdichtung erreicht (der Platz dort ist zu knapp!), bleiben Wahlfreiheiten und Erreichbarkeiten dort insgesamt eher gering.

Uninteressant wird die Fläche als ein Standort, von dem man schnell "in die Stadt" kommt. Weder mit dem Öffentlichen Verkehr noch mit dem Auto sollte der sonst fast zwangsläufige fatale Kreislauf von Zersiedelung, Verkehrsaufwand und Stadtzerstörung durch öffentliche Subventionen angeheizt werden.

5. Regionale Gefahr: Amerikanisierung und Suburbia

Die Gefahren sind offensichtlich: dichte Quartiere in Großstädten und Kleinstädten öffnen sich dem Auto - mit fatalen Folgen: sie verlieren ihre Dichte, und damit die Erreichbarkeiten der Nähe und des Massenverkehrs. Und sie verlieren ihre Qualitäten und Freiflächen, und damit den Reiz, sich dort aufzuhalten. Gleichzeitig wird die Fläche zersiedelt - denn das Auto braucht man sowieso; und dort scheint noch Straßenbau möglich.

So würden wir in eine Lebens- und Siedlungsform hineingeraten, in der wir ein Viertel von Einkommen und verfügbarer Zeit für das Autofahren aufwenden müssen - bei vergleichsweise geringer Mobilität und Wahlfreiheit. Es steht zu befürchten, daß bei solchem Aufwand und derart künstlich verkleinerten Märkten die regionale Wirtschaftskraft immer weiter absinkt.

6. Regionale Chance 1: Urbane Vernetzungen in Stadt und Land

Dagegen wäre die politische Entscheidung für kompakte Städte und Dörfer möglich. Bauleitplanung sicherte Dichte, Mischung und Freiflächen. Die Planung des öffentlichen Verkehrs würde die Bahnhöfe und Haltestellen mit vielen Fahrgästen deutlich bevorzugen; Autofahren und Parken dagegen wäre mühsam und teuer; beides in Höhe und Relation der tatsächlichen Kosten. Haupt- und Nebenstraßen wären Boulevards und verkehrsberuhigt.

Die Stadtkultur der Nähe könnte eine neue Blüte erleben, regional und überregional vernetzt, und mit dem Reichtum höchster Erreichbarkeiten. Diese Stadtkultur - in der Tradition Europas - könnte auch in Zukunft wieder Motor des sozialen, ökologischen und ökonomischen Fortschritts sein. Und dieser Fortschritt umfaßte die ganze Region: Großstädte, Kleinstädte und Dörfer.

7. Regionale Chance 2: Suburbanität mit kultiviertem Autoverkehr

Auch wenn die Stadt schlechter erreichbar wird, wird manches in der Fläche bleiben: die personalarme, automatisierte Produktion, manche Warenverteilung mit hohem Flächenbedarf, die Wohn- und Erholungsstandorte für bestimmte Jahreszeiten oder Lebensphasen. Neben einer bescheidenen Grundversorgung im Öffentlichen Verkehr gäbe es dort Auto-Mobilität: kultiviert, konkurrenzfrei, ohne überflüssige Dynamiken, und begrenzt durch strenge Umweltstandards. Autoland bietet nur wenig Mobilität. Aber es dient einigen notwendigen Funktionen und ist eine Alternative für Lebensphasen und Lebensformen mit geringen Auswahlmöglichkeiten.

8. Reurbanisierung: Utopie oder greifbare Wirklichkeit?

Manche Tendenzen in Gesetzen und Wirtschaft, Verhalten und Wissenschaft scheinen darauf hinzusteuern, daß der Weg nach Autoland unumkehrbar sei. Manche Städte werden ihre Stadteigenschaften aufgeben, dort werden die Bürger die Lasten und Unfreiheiten von Autoland tragen müssen.

Es gibt aber Hoffnung auf Reurbanisierung: sie liegt in der langen Geschichte der Städte, ihrer ständigen baulichen Erneuerung, den wechselnden Standortentscheidungen der Bürger, und neuem Bevölkerungswachstum. Städtisches Selbstbewußtsein scheint dabei die Grundlage für regionale Kooperation, wirtschaftlichen Erfolg, und Politikfähigkeit zu sein. Das Wort "Politik" kommt von Polis - Stadt! Eine Politik für strenge Spielregeln gegen die Übernutzung des Autos scheint dabei der wichtigste Garant der Freiheit der Städter.





Manuskript

Kassel November 1996