Flächensparender Vorrang von Strassenbahnen und Bussen
Henning Krug
November 2003
erschienen in: "Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung" - 36.Ergänzungslieferung 11/2003, Apel,D.,u.a. (Punkt 5.4.1.3)
Abbildungen 1+2: Planungsbeispiele Halle (Saale) : Differenzierung Straßenabschnitte, Querschnitte [150 KB]
Abbildungen 3+4: Städtische Hauptverkehrsstraßen mit flächensparendem ÖV-Vorrang : Prinzipskizzen Grundriss, Querschnitte [143 KB]
1 FLÄCHENWIRKUNGSGRAD ALS LEITKRITERIUM DER STADTVERKEHRSPLANUNG
Die Stadtverkehrsplanung muss ihre Outputgrößen Erreichbarkeit, Leistungsfähigkeit, Geschwindigkeit etc. immer zu den dafür eingesetzten natürlichen, wirtschaftlichen und sozialen Ressourcen in ein Verhältnis setzen. Hohe Ressourceneinsätze für geringe Zusatznutzen verschlechtern Effizienz und Wirkungsgrad der Verkehrssysteme. Eine der wichtigsten Ressourcen ist die Fläche. Deshalb ist ein hoher Flächenwirkungsgrad bzw. sind flächensparende Verkehrsanlagen nicht bedauerlicher Zwang bei 'beengten Verhältnissen', sondern aus mehreren Gründen eines der primären Ziele der Verkehrsplanung (vgl. von Winning, 5.9.1, S.1):
1) Jeder eingesparte Quadratmeter Verkehrsfläche kommt größeren Nutzungsdichten oder Freiraumqualitäten zugute. Dies ist wichtigste städtebauliche Voraussetzung für Naherreichbarkeiten und nichtmotorisierten Verkehr und damit originäres Interesse einer an Nachhaltigkeit orientierten Verkehrsplanung.
2) Von diesen Vorteilen profitiert insbesondere der ÖV selbst: Dicht bebaute Stadtquartiere und attraktive öffentliche Räume sind Grundvoraussetzung für kurze und angenehme Wege von und zur Haltestelle und damit für dauerhaft hohe Fahrgastzahlen im ÖV (4).
3) Priorisierung und Vorrang des öffentlichen Nahverkehrs lassen sich erst durch eine gegenüber dem MIV geringere Ressourceninanspruchnahme pro Kopf rechtfertigen.
Der prinzipielle Anspruch auf exklusive Straßenbahnspuren ist paradox und kontraproduktiv, da er einen der wichtigsten Gründe für ÖV-Förderung und -Vorrang vernichtet: den sparsameren Umgang mit knappen Flächen. Während der Flächenwirkungsgrad der Straßenbahn im Mischverkehr beim über 10-fachen des MIV liegt, so ist dieser Effizienzvorteil bei eigenem Gleiskörper und üblichen Fahrzeugfolgezeiten von 5 bis 10 Minuten auch bei voll besetzten ÖV-Fahrzeugen nicht mehr gegeben (s. Tabelle).
Die "Empfehlungen zur Anlage von Hauptverkehrsstraßen" haben schon 1993 (EAHV’93) das konventionelle Entwurfsrepertoire räumlicher Trennung von Straßenbahn und MIV um den Mischverkehr mit „zeitlicher Trennung“ und ÖV-Fahrzeugen als Pulkführer erweitert (s. 2.4). Diese Erweiterung wurde inzwischen durch mehrere Forschungsarbeiten und Projektstudien bestätigt (dokumentiert in (1), (2), (3), (6) und (7)), jedoch in der Praxis der Förderung nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) nicht zur Kenntnis genommen. § 2 I Nr.2a macht den „besonderen Bahnkörper“ zur Bedingung für die Förderung des Baus von Straßenbahnstrecken. In städtischen Straßenräumen geht diese Vorgabe immer zu Lasten anderer Nutzungsansprüche, mit z. T. gravierenden städtebaulichen oder verkehrlichen Nachteilen: z. B. den Verzicht auf Radwege oder Parkmöglichkeiten, den Verlust von Alleen, Vorgärten oder Baugrund und/ oder schmale Restflächen für Fußgänger und Aufenthalt (s. Abb. 4d). Da Kommunen auf die GVFG-Förderung meist angewiesen sind, existieren bis heute kaum Bemühungen und Erfahrungen, Mischverkehr durch integrierte Entwurfs- und Steuerungstechniken in normalen städtischen Hauptverkehrsstraßen umfassend zu optimieren.
Der Beitrag erläutert die fachlichen Grundlagen und Argumente für eine differenzierte Abwägung der Vor- und Nachteile eines eigenen Gleiskörpers gegenüber flächensparenden Lösungen. Das Konzept eines integrierten Verkehrsmanagements von ÖV und MIV auf zum Teil gemeinsamen Flächen setzt sich aus einer Kombination gängiger und innovativer Entwurfs- und Steuerungsbausteine zusammen (Kap.2). Es werden Beispiele angepasster Lösungen skizziert, die die für städtische Straßennetze charakteristischen teilräumliche Unterschiede etwa von Stauwahrscheinlichkeiten und Aufenthaltsfunkion berücksichtigen (Abb. 1-4). Im Kapitel 3, Wirkungsanalyse und Bewertung, wird erklärt, inwiefern nicht nur andere Straßenraumnutzungen davon profitieren, sondern dass abschnittsweiser Mischverkehr sogar der bessere ÖV-Vorrang ist. Die Aussagen basieren auf den oben zitierten Studien, insbesondere auf der Studie "Flächensparender ÖPNV-Vorrang zur städtebaulichen Aufwertung von Hauptverkehrsstraßen, Beispiel Halle (Saale)" (7).
Die aktuelle Diskussion dieser Problematik bezieht sich vornehmlich auf die Straßenbahn, sie betrifft jedoch alle Formen eines attraktiven Massenverkehrs. Daher wird im Folgenden von ÖV-Fahrzeugen gesprochen, um auch den Bus einzuschließen.
2 BAUSTEINE EINES STÖRUNGSARMEN ÖV-ABLAUFS
2.1 Führung auf Hauptverkehrsstraßen
Die Anforderungen an innerörtliche ÖV-Strecken sind weitgehend deckungsgleich mit den klassischen Eigenschaften von innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen:
Priorisierung im Verkehrsablauf,
geradlinige Streckenführung,
Bündelung der Immissionsbelastung,
Konzentration von Immissions-unempfindlicheren Nutzungen,
hoher Öffentlichkeitsanspruch und
ca. 300 bis 500 m Erschließungstiefe beidseitig.
In Hauptverkehrsstraßen sind Flächen aufgrund der Intensität und Vielzahl verkehrlicher und bebauungsbezogener Nutzungen besonders knapp. Eine Ausweichstrategie, die zur Vermeidung MIV-bedingter Störungen den ÖV auf Nebenstraßen oder auf eigenen, anbaufreien Trassen führt, ist bereits für die Reisezeiten im ÖV nicht selten von Nachteil und aufgrund verkehrlicher und städtebaulicher Probleme nur in sehr wenigen Ausnahmefällen zweckmäßig.
2.2 Vorrang an Lichtsignalanlagen
Dass ÖV-Fahrzeugen an lichtsignalgeregelten Knotenpunkten durch Grünanforderung Vorrang vor dem kreuzenden Individualverkehr einzuräumen ist, wird in der Fachwelt allgemein anerkannt. Störungsarmer Mischverkehr von MIV und ÖV stellt zusätzliche Anforderungen an die LSA-Beeinflussung, da auch der gleichgerichtete MIV-Strom auf die Ankunft des ÖV-Fahrzeugs abzustimmen ist:
Bei Mischverkehr in der Knotenzufahrt muss der Aufstellbereich vor der Haltelinie rechtzeitig vor Ankunft des ÖV-Fahrzeugs geräumt werden.
Bei getrennter Führung in der Knotenzufahrt und Mischverkehr hinter dem Knoten ist auch der gleichgerichtete MIV-Strom für die Zeit der ÖV-Überfahrt zu sperren. Wenn solche Knoten dem (Wieder-)Aufbau der Pulkführung dienen (s. 2.4), dann muss die Sperrung des gleichgerichteten MIV-Stroms sowie stärkerer Einbiegerströme frühzeitig erfolgen.
Bei Haltestellen in der Knotenpunktausfahrt ist diese nach ÖV-Durchfahrt blockiert. Es sollten dann jene Ströme Freigabezeiten erhalten, die diese Ausfahrt nicht oder nur schwach belasten; Die gleichgerichteten MIV-Ströme bleiben für die Dauer des Haltestellenaufenthalts gesperrt.
2.3 Staumanagement und Stauvorbeifahrt
Überlastungserscheinungen bzw. hohe Verkehrsdichten im MIV dürfen nicht zu Störungen des ÖV führen. Dort wo sie auftreten, können nur getrennte ÖV-Spuren einen zügigen Fahrtablauf sicher stellen. Das heutige Bild der räumlichen Stauverteilung dokumentiert dabei einen nicht nur für den ÖV sehr unbefriedigenden Zustand: Stau tritt vor allem dort auf, wo er am stärksten stört, weil sich Ziele konzentrieren, Straßenräume eher schmal, Knotenpunktabstände kurz und Umfeldnutzung, Fußgänger- und Radverkehr besonders intensiv sind. Die Stauanteile sind also gerade in jenen Stadtquartieren und Straßenräumen überdurchschnittlich, die besonders empfindlich gegenüber der (Immissions-)Belastung durch Stau sind. Und gleichzeitig ist gerade dort eine zusätzliche Flächeninanspruchnahme durch getrennte ÖV-Spuren besonders nachteilig.
Daher kommt bereits der punktuelle Einsatz flächensparender Lösungen in besonders engen Straßenräumen häufig nicht ohne eine kleinräumige Beeinflussung des Staugeschehens aus. Umso mehr setzt ihre flächendeckende Einbeziehung eine gezielte Einflussnahme der räumlichen Stauverteilung im Netz voraus ("Staumanagement").
Die räumliche Verteilung von Stau bzw. hoher Kfz-Dichte ist als Funktion der relativen Leistungsfähigkeiten der betrachteten Knoten in gewissem Maße steuerbar. Entsprechende Festlegungen werden bei jeder Knotenbemessung durch den Signalplan und die Größe der Aufstellbereiche in den Zufahrten getroffen. Aufgabe des Staumanagements ist es, diese Steuerbarkeit für eine möglichst verträgliche Verteilung der unvermeidbaren Überlastungserscheinungen im MIV zu nutzen, also Straßenräume mit empfindlicherem Umfeld und knapperen Flächen staufrei zu halten. Die Wartezeiten im MIV werden dadurch nicht vergrößert, sondern nur räumlich verlagert. Durch ein gezieltes Management können vielmehr extreme Eigenbehinderungen und negative Rückkopplungen vermieden werden. Die Kriterien für diese Einteilung sind nicht nur verkehrstechnischer, sondern auch städtebaulicher Art:
Flächenangebot und Straßenraumquerschnitt
Empfindlichkeit angrenzender Nutzungen (Erschließungs- und Aufenthaltsfunktion)
Städtebaulicher und stadträumlicher Rhythmus
ÖV-Takt und Haltestellenstandorte
MIV-Mengen, getrennt nach Richtungen bzw. Strömen
In Strecken mit Mischverkehr von MIV und ÖV ist durch Zuflussdosierung Staufreiheit zu gewährleisten. Die maximale Zuflussmenge ermittelt sich aus der maximalen Abflussmenge am Ende eines Mischverkehrsabschnitts (Leistungsfähigkeit) abzüglich der Netto-Zuflüsse aus Nebenstraßen und Grundstücken. Städtebauliche und verkehrliche Rhythmen (Raumgliederung, Lichtsignalanlagen, Haltestellen u.a.) legen einen kleinteiligen Wechsel von Mischverkehr und Trennung im Abstand von ca. 100 - 500 m nahe (s. Abb. 1). Größere Überlastungserscheinungen können dabei auf mehrere kürzere ÖV-Überholstrecken aufgeteilt werden. Diese Art der Zuflussdosierung unterscheidet sich durch ihre Kleinteiligkeit von der großräumigen Pförtnerung an (Innen-)Stadtzufahrten. Daher ist sie auch in Innenstädten und auch bei Stau in stadtauswärtiger Richtung einsetzbar.
Staufreie Strecken sind in der Regel für Mischverkehr geeignet. Für eine flächenhafte Anwendung des abschnittsweisen Mischverkehrs stellen sich die Fragen, wie groß die Gesamtstaumenge in einem städtischen Netz(-teil) sein wird bzw. wie sie prognostiziert und möglicherweise auch beeinflusst werden kann. Diese Fragen können derzeit leider noch nicht auf der Basis einer aussagekräftigen und allgemein anerkannten Theorie über den den städtischen Stau beantwortet werden. Plausibel erscheinen dem Verfasser jedoch folgende Annahmen: Mittelfristig regelt sich die maximale Staumenge in einer Stadt auf einem relativ stabilen Niveau; Veränderungen der MIV-Netzleistungsfähigkeiten wirken sich erfahrungsgemäß kaum bzw. nicht signifikant negativ auf die Staumengen aus. Dieser Umstand lässt sich am besten durch eine begrenzte Bereitschaft der Verkehrsteilnehmer erklären, im Autoverkehr Verzögerungen in Kauf zu nehmen anstatt alternative Zeiten, Ziele, Verkehrsmittel etc. zu wählen. Eine solche "Staubereitschaft" unterstellt, werden Staulängen neben der Motorisierungsentwicklung vor allem durch die Qualität von Handlungsalternativen (z. B. gute ÖV-Angebote) oder die zusätzlichen Kosten des Autofahrens (z. B. Stellplatzkosten) beeinflusst. Unter diesbezüglichen Ceteris-paribus-Bedingungen dürften empirische Momentaufnahmen (z. B. Luftbilder) großstädtischer Hauptstraßennetze zu Spitzenzeiten bereits eine gute Annäherung an zukünftige Gesamtstaumengen darstellen. In diesen Momentaufnahmen bleibt ein erheblicher Teil des Netzes ständig im staufreien „Schatten“ eines Knoten oder sonstigen Engpasses. Der für Mischverkehr geeignete Anteil des Hauptstraßennetzes dürfte in den meisten Städten zwischen 25 und 50 % liegen.
2.4 Pulkführung durch das ÖV-Fahrzeug
Im Mischverkehr gibt es neben dem kapazitätsbedingten Stau weitere Faktoren, die den ÖV-Fahrtablauf beeinträchtigen können. Sie resultieren aus den Unregelmäßigkeiten des Fahrtablaufs im MIV und der Erschließungsfunktion einer Haupverkehrsstraße für die angrenzenden Grundstücke und Quartiere. Häufigste Ursache für Verzögerungen sind Einpark- und Abbiegevorgänge. Das Störungsrisiko kann unter sonst gleichen Bedingungen durch die Summe der reziproken Zeitabstände zwischen vorausfahrenden Kfz und nachfolgendem ÖV-Fahrzeug angegeben werden. Wesentliches Element der Störungsminimierung im Mischverkehr ist daher die Pulkführung durch das ÖV-Fahrzeug (näher erläutert als „zeitliche Trennung“ in den EAHV 93, Kap. 4.2.7.2, sowie als „Dynamische Straßenraumfreigabe“ bei Albers 1996). Dabei wird das ÖV-Fahrzeug unmittelbar vor dem ohnehin in LSA-bedingten Pulks fahrenden MIV in einen Mischverkehrsabschnitt eingelassen. Dadurch entsteht ein Zeitabstand zum vorhergehenden Fahrzeugpulk und das Störungsrisiko nimmt ab. Der notwendige Zeitabstand kann entweder an der LSA-geregelten Einfahrt in einen Mischverkehrsabschnitt oder durch die Pfropfenwirkung der im Mischverkehr an der Haltestelle stehenden Straßenbahn (s. 2.5) erzeugt werden.
Insgesamt ist für die Pulkführung eine feine Abstimmung von Haltestellenlage und -art, Querschnitt, LSA-Steuerung an nahe gelegenen Knoten, Erschließungsfunktion des Straßenabschnitts und Länge der Mischverkehrsstrecke nötig. Von der Anzahl an Ein- und Abbiege- sowie an Einpark- und Ausparkvorgängen hängt es ab, wie schnell der Zeitabstand „verbraucht“ ist. In vielen Fällen dürfte die Dichte der Haltestellen zur rechtzeitigen Erneuerung der Pulkführung ausreichen. In Straßen mit starker Erschließungsfunktion sollten an LSA-geregelten Knoten oder Fußgängerquerungen zu diesem Zweck zusätzlich kleine Überholstrecken und -phasen vorgesehen werden. bzw. die Zeitabstände größer bemessen werden. Weitere Maßnahmen können das Störungsrisiko in den Mischverkehrsstrecken zusätzlich reduzieren:
Für Linksabbieger sind in der Regel vom ÖV getrennte Aufstellflächen notwendig.
Größere Einbiegerströme sollten wo nötig in die Signalisierung und den Aufbau der Pulkführung einbezogen werden.
Störungen durch Ein- und Ausparker können durch die Menge, Anordnung und Bewirtschaftung der Parkstände sowie durch seitliche Pufferzonen im Querschnitt (s. 2.5) beeinflusst werden.
2.5 Flexible Querschnitte im Mischverkehr
Für Mischverkehrsstrecken von MIV und ÖV gibt es keine Standardlösung, sondern sind eine Vielzahl situationsangepasster Varianten denkbar. Durch eine geeignete Querschnittsgestaltung kann auch das Störungsrisiko weiter minimiert werden. In dieser Hinsicht generell vorteilhaft erscheinen seitliche Pufferzonen zwischen dem Lichtraumprofil des ÖV-Fahrzeugs und Aktivitäten im Seitenraum, insb. Rangieren bzw. Einparken. Dafür sollten Entwurfselemente bevorzugt werden, die jenseits der Lichtraumprofile insbesondere des schienengebundenen Verkehrs möglichst nutzungsflexibel und multifunktional sind; z. B. überbreite (Richtungs-)Fahrbahnen mit vom Rand abgerückten Gleisachsen, doppelter Pkw-Aufstellung an LSA-Knoten und leichten Gleisverschwenkungen zum Rand an Haltestellenkaps, Mittelinseln oder Linksabbiegespuren. Auch fahrbahnseitige Radverkehrsanlagen (Radfahr- oder Angebotsstreifen) können als pufferndes Element zwischen ÖV-Lichtraumprofil und Seitenraum dienen.
In vielen Mischverkehrsabschnitten mit Fußgänger-Querungsbedarf und Erschließungsfunktion sollte die Anlage von durchgehenden Mittelstreifen zwischen den Richtungsfahrbahnen untersucht werden. Diese können überlagernd bzw. im Wechsel als komfortable Querungshilfe, als Aufstellfläche für Linksabbieger und an Haltestellen als Fahrbahntrennung und Überholsperre fungieren.
Abb. 3 und 4 zeigen in der Mitte die Kombination der hier beschriebenen Entwurfselemente überbreite Richtungsfahrbahn, Mittelstreifen und fahrbahnseitige Radverkehrsanlage in einem Querschnitt. Es entstehen in diesem Beispiel großzügige einbaufreie Überholbreiten für Sondersituationen, Einsatzfahrzeuge etc.
2.6 Geeignete Haltestellenstandorte und arten für Mischverkehr
An LSA-Knoten mit ÖV-Vorrang sollten Haltestellen generell eher hinter dem Knoten angeordnet werden, da dann die Ankunftszeit am Knoten exakter prognostiziert und die Verlustzeiten reduziert werden können. Im Mischverkehr spricht für diese Lage zudem, dass die Knotenpunktzufahrt bei ÖV-Annäherung ohnehin freigeräumt werden muss, sowie dass die Pfopfenwirkung in der Knotenausfahrt für die Pulkführung im nachfolgenden Streckenabschnitt in der Regel erwünscht ist. Es kann sich dabei anbieten, die Haltestelle um wenige Pkw-Längen vom Knoten abzurücken, um während des Haltestellenaufenthalts Aufstellflächen für Einbieger zu gewinnen.
Die Lage von Haltestellen und Mischverkehrsabschnitte sollte gegenseitig so angepasst werden, dass Haltestellen möglichst immer in Mischverkehrsabschnitten liegen. Gründe:
Haltestellen sind ein wichtiges Element der Pulkführung (s. 2.4). Eine Trennung zum Zweck der Stauvorbeifahrt ist an einer Haltestelle naturgemäß kontraproduktiv.
Fußgängerverkehr, Aufenthaltsaktivitäten und publikumsintensive Nutzungen konzentrieren sich an ÖV-Haltestellen. Daher sind hier Flächeneinsparungen durch die Überlagerung von MIV und ÖV besonders wertvoll.
Im Mischverkehr lassen sich Kaphaltestellen am Fahrbahnrand realisieren, die dem Fahrgast einen angenehmen und sicheren Zugang und Aufenthalt ermöglichen.
Auch die EAHV '93 präferiert Warteflächen im Seitenraum und Zu- und Abgang auf ganzer Fahrzeuglänge mit Anhalten des Kfz-Verkehrs. Zwar lassen sich diese Anforderungen auch bei getrennter Führung mittels der sogenannten dynamischen Haltestelle erfüllen (signalgeschützter Ein- und Ausstieg über die MIV-Fahrbahn; s. Beispiele mit Fahrbahnanhebung aus Wien bei (6)). Da jedoch auch bei dieser Lösung der MIV für die gesamte Dauer des Haltestellenaufenthalts angehalten werden muss, ist der Eingriff in den MIV-Fahrtablauf derselbe wie bei Mischverkehr mit Pulkführung. Daher bietet sich in den meisten Fällen an, gleich die vollen Vorteile des Mischverkehrs wie direkten Zustieg vom Bürgersteig und weitere Flächeneinsparung zu realisieren.
Zur Verhinderung gefährlicher Überholvorgänge eines haltenden ÖV-Fahrzeugs sind in zweispurigen Straßen Mittelinseln/-streifen empfehlenswert, die gleichzeitig den an Haltestellen wichtigen Vorteil einer Querungshilfe bringen. In mehrspurigen Richtungsfahrbahnen abseits von Knoten sollten Überholsperre und Querungshilfe durch ein Zusatzsignal geschaffen werden. Liegt die Haltestelle direkt hinter einem Knoten, so ist im Einzelfall zu prüfen, wie sich einzelne Kfz-Einbieger, die während des Haltestellenaufenthalts das ÖV-Fahrzeug überholen, auf das Störungsrisiko auswirken.
An einer Kaphaltestelle sind verschiedene Formen der Radverkehrsführung denkbar. Analog zum MIV erscheinen dabei auch Lösungen zumutbar und sachgerecht, die den Radverkehr für die Dauer des Haltestellenaufenthalts kurzzeitig blockieren, um einen ungestörten Fahrgastwechsel zu ermöglichen und zusätzliche Konflikte an Auffangradwegen hinter den Warteflächen zu vermeiden.
2.7 Prinzipskizzen und Planungsbeispiele
Die Abbildungen 1 bis 4 zeigen idealisierte Prinzipskizzen und Planungsbeispiele für abschnittsweisen Mischverkehr in Querschnitt und Grundriss. Die Abbildungen 3 und 4 stellen auf der Basis zahlreicher Projektstudien in verschiedenen Städten wiederkehrende Entwurfselemente zu ersten Idealtypen zusammen. Die Auswahl stellt einen Ausschnitt Ausschnitt aus einem breiten Spektrum an Lösungsmöglichkeiten dar. Variationen insbesondere denkbar im Hinblick auf
die Größe und Lage von MIV-Wartebereichen,
die Anordnung von Linksabbiegern und Haltestellen,
die Zuordnung von Radfahr-, Fußgänger-, Park-, Aufenthalts- und Grünflächen,
die Entsprechung von Raumfolgen, Wänden und Bäumen mit den Straßenflächen und Bewegungsrichtungen und
die Anzahl und Anordnung von Fahrspuren und die Verkehrsmengen von MIV und ÖV
Abb.1 Planungsbeispiele Halle/Saale, Differenzierung Straßenabschnitte
Abb.2 Planungsbeispiele Halle/Saale, Querschnitte
Abb.3 Städtische Hauptverkehrsstraßen mit Flächensparendem ÖV-Vorrang - Prinzipskizzen Grundriss
Abb.4 Prinzipskizzen Querschnitte
3 WIRKUNGSANALYSE UND BEWERTUNG
Das vorgeschlagene Konzept einer abschnittsweisen gemeinsamen Führung von MIV und ÖV ermöglicht einen höheren Flächenwirkungsgrad (Verkehrsleistung pro Fläche) als die prinzipielle Trennung beider Verkehrsarten. Dabei wird man sich je nach städtebaulich-verkehrlicher Abwägung im Einzelfall für mehr Verkehrsleistung, mehr Freifläche, bessere Radwege, bessere Andienung, breitere Gehwege, bessere Querbarkeit und Vernetzung und/ oder für geringere Straßenraumbreiten und Kosten entscheiden. Die folgenden Kapitel beziehen alle diese Optionen mit ein auch wenn im Einzelfall natürlich Prioritäten abzuwägen sind.
3.1 Städtebau und Stadtgestalt
Die Vorteile eine flächensparenden Verkehrsorganisation für die Gesamtheit bebauungsbezogener Nutzungsansprüche und der Öffentlichkeitsfunktion städtischer Straßen liegen auf der Hand und wurden bereits mehrfach erwähnt. Darüber hinaus ergeben sich Möglichkeiten, den verbleibenden Verkehrsflächenbedarf flexibler und in höherem Maß nach städtebaulichen Kriterien (Symmetrien, Proportionen, Raumachsen und -folgen, Sichtbeziehungen, Denkmalschutz, Alleeachsen u. a.) räumlich anzuordnen. Im Mischverkehr (mit Mittelstreifen) sind insbesondere keine gestalterisch und funktional störenden kurzen Fahrbahnaufweitungen bzw. -versätze für Haltestelleninseln (und Linksabbieger) notwendig. Gerade in den gründerzeitlichen Fahrbahnprofilen von 9 bis 10 m, die in den ostdeutschen Städten häufig noch erhalten sind, kann damit einerseits die strenge Linearität der Ränder und der Alleebestand geschützt und gleichzeitig eine kleinräumig angepasste Verkehrsorganisation erreicht werden (s. Abb. 3 und 4). Der Wechsel von Mischverkehr und getrennter Führung erwies sich in den Projektstudien als unproblematisch bis günstig, da dieser in der Regel in Rhythmen und an Stellen erfolgen kann, an denen sich auch die stadträumlichen Geometrien ändern, etwa bei Veränderungen in Richtungsverlauf und Längsneigung, breiten einmündenden Straßen, Versprüngen in der Randbebauung, Platzbildungen und/oder Veränderungen von Empfindlichkeit und Straßenraumbezug der Randnutzung.
Leichte Gleisverschwenkungen zur Kaphaltestelle und damit im Bereich geringer Geschwindigkeiten sind im Hinblick auf Fahrgastkomfort, Lärm und Verschleiss vertretbar. Städtebaulich sind sie von Vorteil, wenn dadurch die räumlich wirksameren Elemente (Allee, Bordstein) in der Achse bleiben können (s. Abb. 3 und 4 c).
3.2 Fußgänger und Radfahrer
Radverkehrsanlagen werden häufig erst durch die flächensparende Überlagerung von ÖV und MIV möglich. In Teilabschnitten mit Mischverkehr können breitere Bürgersteige angeboten werden. Fußgängern kommen des Weiteren kürzere Querungsstrecken infolge schmalerer Fahrbahnquerschnitte zugute. An LSA-Knoten können mehrphasige Übergänge mit zusätzlichen Wartezeiten auf Mittelinseln eher vermieden werden (s. Abb.4c/d). Abseits von LSA-Knoten lässt sich die ungesicherte Querungsstrecke durch die Anlage von Mittelinseln oder -streifen auf ein überschaubares Maß verringern. Der eigene Gleiskörper bietet als Querungshilfe zwar eine vergleichbare subjektive Sicherheit und Akzeptanz, aber aber eine wesentlich schlechtere objektive Sicherheit.
3.3 Motorisierter Individualverkehr und Kfz-Erschließung
Auch für den MIV können Vorteile gegenüber der prinzipiellen Trennung von ÖV und MIV realisiert werden. Die Reduzierung der Fahrbahnbreiten erleichtert die Anordnung von Längsparkstreifen oder Lade- und Lieferzonen am Fahrbahnrand. Die Linksabbieger-Problematik (besondere Linksabbiegespuren, extra Signalisierung oder Linksabbiegeverbote) entschärft sich bei Mischverkehr mit Mittelstreifen erheblich. Mischverkehr in der Zufahrt der für die Netzleistungsfähigkeit entscheidenden Knotenpunkte ermöglicht zusätzliche Fahrspuren bei gleicher Fläche und somit tendenziell höhere Netzleistungsfähigkeiten. Hohe MIV-Mengen und begrenzte Leistungsfähigkeiten können also auch ein Argument für Mischverkehr sein. Es ist nochmals zu betonen, dass für die Differenzierung von Mischverkehr und getrennter Führung nicht die MIV-Mengen, sondern die MIV-Dichten (Langsamverkehr, Stau) entscheidend sind. Wird die Überlagerung nicht für zusätzliche Fahrspuren genutzt, können die kürzeren Fußgängerfurten und insgesamt kompakteren Knoten dennoch Leistungsvorteile bewirken bzw. die Leistungsnachteile durch die Koordination der Knoten und durch den ÖV-Anteil im MIV-Strom kompensieren. Der größte Nachteil für den MIV liegt darin, dass eine Grüne Welle - bereits bei LSA-Vorrang für den ÖV ohnehin kaum machbar - endgültig nicht mehr realisierbar ist, wenn die Signalisierung dem ÖV-spezifischen Rhythmus von Fahren und Halten unterworfen wird.
3.4 Öffentlicher Verkehr
In den Planungsbeispielen und Prinzipskizzen wurden alle Haltestellen als Bürgersteighaltestellen (Kap-Haltestelle) ausgebildet. Dies wird als einer der entscheidenden Vorteile der abschnittsweisen gemeinsamen Führung von MIV und ÖV angesehen. Die Kopplungsmöglichkeiten mit Geschäften sowie die höhere Aufenthaltsqualität auf breiten Bürgersteigen verkürzen sowohl die reale als auch die empfundene Wartezeit. Zudem erreicht die Hälfte der Fahrgäste den Zustieg ohne zusätzliche Fahrbahnquerung und dadurch bedingte Zeitverluste bzw. Gefährdung. Der Zugang auf ganzer Fahrzeuglänge gewährleistet auch in Spitzenzeiten eine gleichmäßige Fahrgastverteilung auf die Türen und damit kürzere Standzeiten. Demgegenüber haben Haltestelleninseln erhebliche Qualitäts- und Sicherheitsmängel. Die dort übliche Kanalisierung auf einen Fußgängerüberweg bzw. auf Grünzeiten wird durch Aussteiger und eilige Einsteiger häufig missachtet (6). In eine haltende Straßenbahn nicht einsteigen zu können, weil der Inselzugang im entscheidenden Moment vom MIV blockiert wird, bewirkt MIV- statt ÖV-Vorrang sowie große Verärgerung bei betroffenen Fahrgästen.
Im Hinblick auf Beförderungsgeschwindigkeit und Reisezeit sowie Zuverlässigkeit und Fahrplantreue von Straßenbahnen und Bussen kann davon ausgegangen werden, daß sich bei richtiger Organisation keine übermäßigen Unterschiede in den ÖV-Geschwindigkeiten im Vergleich zu einer prinzipiellen Trennung ergeben. Die schlechten empirischen Erfahrungen mit Mischverkehr können hier nicht als Gegenargument angeführt werden. Sie basieren meist auf Straßen, die weder im Sinne der "dynamischen Straßenraumfreigabe" entworfen noch entsprechend gesteuert wurden. Die wenigen bisherigen Untersuchungen über Streckenabschnitte, in denen Teile des vorgeschlagenen Konzeptes realisiert wurden (in der Regel die Pulkführung, selten das Staumanagement oder die vorgeschlagenen Querschnitte) lassen eher eine positive Einschätzung zu; so zum Beispiel bei Albers: "Verlustzeiten (aus Slow-and-Go und Streckenhaltezeiten) auf Streckenabschnitten lassen sich bei gut beschleunigten Streckenzügen in Straßenräumen mit intensiven Umfeldnutzungen auf unter 10% der mittleren Beförderungszeit auf dem Streckenabschnitt beschränken." (S.23) Und Kloppe (2000, 17): "Die Tatsache, dass bei allen Bahnkörperformen hohe Fahrgeschwindigkeiten gemessen wurden, zeigt, dass bei entsprechenden Umfeldbedingungen mit jeder Bahnkörperform eine gute Qualität im Verkehrsablauf des ÖPNV ermöglicht werden kann. Gravierender als die Fahrzeitverluste in den Streckenabschnitten sind die Fahrzeitverluste, die an den Lichtsignalanlagen und an den Haltestellen entstehen."
Im Hinblick auf Image und Marktanteile des ÖV ist die hier vorgeschlagene Verkehrsorganisation gegenüber einer prinzipiellen Trennung von ÖV und MIV klar im Vorteil. Neben den attraktiveren Haltestellen spielen dabei vorwiegend psychologische Aspekte des Überholens und Überholt-werdens eine Rolle: Im Mischverkehr fährt das ÖV-Fahrzeug voraus und kann auch an Haltestellen nicht überholt werden (ÖV-Vorrang durch Pulkführung!), in Abschnitten mit getrennter Führung überholt es einen möglichen Stau. Dagegen wird der durchfahrende Fahrgast bei prinzipieller Trennung an jeder Haltestelle von Autofahrern überholt. Dieser MIV-Vorrang ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für das in breiten Bevölkerungschichten nach wie vor vorhandene Image des ÖV als Verkehrsmittel "Zweiter Klasse".
Im Nachteil sind Mischverkehrsstrecken im Hinblick auf die Betroffenheit des ÖV durch Unfälle im bzw. mit dem Individualverkehr. Schließlich ist es einer flächensparenden Verkehrsorganisation immanent, Störungsrisiko und Flächenbedarf gegeneinander abzuwägen. Das Störungsrisiko bemisst sich nach Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit. Äußerst seltene Störungen wie Unfälle rechtfertigen in Abschnitten hoher Nutzungsdichte keine großzügigen Reserveflächen. Insgesamt schneidet das in Kap. 2 beschriebene Konzept gegenüber einer prinzipiellen Trennung von ÖV und MIV im Hinblick auf das Störungsrisiko kaum schlechter ab, da
Mischverkehr nur abschnittsweise empfohlen wird und der staugefährdete Teil des Netzes getrennt bleibt,
da sich die meisten Unfälle an Knoten ereignen, die auch bei "prinzipieller Trennung" im Mischverkehr betrieben werden müssen und
da im Mischverkehr das ÖV-Fahrzeug nicht im "totenWinkel" der Linksabbieger fährt, welches eine häufige Ursache für Unfälle und Behinderungen ist.
Zudem lässt sich durch die empfohlen Querschnittselemente gewährleisten, dass zumindest nicht spurgeführten Fahrzeugen ausreichende Überholbreiten zur Verfügung stehen (s. Kap. 2.5 sowie Abb. 4 b).
3.5 Einsatzbereiche
In den empirischen Studien von Albers (1) und Schnüll (6) werden keine signifikanten Korrelationen von MIV-Menge und Störungsrisiko festgestellt, obwohl die untersuchten Beispielstraßen nach Aussage der Autoren baulich nicht optimal auf die Bedingungen der dynamischen Straßenraumfreigabe ausgelegt waren. Auch in der Theorie ist wesentliches Kriterium für Störungsrisiko und Fahrgeschwindigkeit nicht die MIV-Menge, sondern seine Dichte. Für die Abwicklung großer MIV-Mengen bleiben auch im Mischverkehr die Grünzeiten und die Anzahl der Fahrspuren vor dem Knotenpunkt maßgeblich. Mit überbreiten Richtungsfahrbahnen plus Links- und gegebenenfalls Rechtsabbiegespuren lässt sich ein breites Belastungsspektrum abdecken. Selbst zwei- oder mehrspurige Richtungsfahrbahnen sind im Mischverkehr denkbar. Zwar ist der relative Flächengewinn dann geringer, aber gegebenenfalls aufgrund der größeren Anzahl MIV-Spuren umso wichtiger. Zwar werden die Verlustzeiten durch die für den Aufbau der Pulkführung notwendige Wartezeit-Koordinierung von ÖV und MIV dann "teurer" und nimmt die Pulkführung durch auf der Strecke überholende Kfz schneller ab. Es kann jedoch dennoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich Mischverkehr auch in solchen Straßenabschnitten fallweise als die insgesamt bessere Lösung erweist. Pauschale Einsatzgrenzen jedenfalls, wenn sie denn überhaupt existieren, lassen sich schon aufgrund der geringen empirischen Erfahrung mit gut organisiertem Mischverkehr noch nicht angeben.
Auch im Hinblick auf die ÖV-Belastung sind Einsatzbereiche weniger durch technische Machbarkeiten als mehr durch Optimierungsaspekte zu definieren. Bei Fahrzeugfolgezeiten von unter 3 bis 4 Minuten treten zunehmende Eigenbehinderungen im Längsverkehr an Haltestellen bzw. durch ebenfalls bevorrechtigten Gegen- und Querverkehr auf, die sich bei Mischverkehr und Pulkführung problematischer auswirken können. Können solche Fahrzeugfolgezeiten nicht durch größere Fahrzeuge oder Netzanpassungen vermieden werden, dürfte auch der tatsächliche Flächenwirkungsgrad in diesen Fällen für eigene ÖV-Spuren als Regelfall sprechen.
4 SCHLUSSFOLGERUNG: GFVG-ANPASSUNG, PILOTPROJEKTE UND ÖV-PRIORISIERUNG
Die in diesem Beitrag ausgewerteten Studien ergeben, dass sich mit einem abschnittsweisen Mischverkehr nicht nur ein generell höherer Flächenwirkungsgrad, sondern auch ein besserer ÖV-Vorrang erreichen lässt. Die prinzipielle Trennung von MIV und ÖV eignet sich daher nicht als Förderkriterium für Straßenbahnstrecken - auch nicht aus Sicht der Straßenbahn selbst. Dies muss in eine geänderte Förderpraxis einfließen. So könnte die gegenwärtig im GVFG geforderte "Besonderheit" des "Besonderen Bahnkörpers" auch durch den Einsatz "besonderer" Entwurfs- und Steuerungselemente mit Zeitlücken für einen zügigen Straßenbahnbetrieb anerkannt werden.
Zwar kann der Beitrag aufgrund der kleinen Erfahrungsbasis sicherlich noch nicht alle Befürchtungen ausräumen. Zumindest aber für (weitere) Pilotprojekte (und ihre Förderung) ist die theoretische Schlüssigkeit zwingend. Den Kommunen wird daher empfohlen, in Neu- oder Umbauplanungen von Straßenbahnstrecken immer auch Mischverkehrsvarianten einzubeziehen. Bereits ihre Simulation optimiert Entwurf und Steuerung von abschnittsweisem Mischverkehr. Vor allem aber lässt sich an Fallbeispielen Überzeugungsarbeit leisten und Druck auf Fördergeber zur Förderung von Pilotprojekten ausüben. Die Empfehlungen gelten gleichermaßen für den Busverkehr. Eine verstärkte Anwendung dort ist ebenfalls hilfreich, um die Erfahrungsbasis zu verbreitern.
Die deutlichste Innovation im vorgestellten Konzept liegt in einer stark ÖV-orientierten Steuerung der Verkehrsablaufs. So positiv dies verkehrplanerisch zu bewerten ist, politische Mehrheiten für eine ÖV-Priorisierung sind noch immer nicht überall selbstverständlich bzw. stabil. Die notwendige offensive politische Auseinandersetzung verspricht jedoch nur dann Erfolg, wenn sie die originären Effizienzvorteile des ÖV betont und nicht das nicht das Trennungsprinzip als optimale Organisationform darstellt und damit den entscheidenden Flächenvorteil des ÖV vernichtet.
5 LITERATUR
(1) Albers, Annette: Dynamische Straßenraumfreigabe für Nahverkehrsfahrzeuge. Hannover 1996 (= Veröff. D. Instituts für Verkehrswirtschaft, Straßenwesen und Städtebau; 17)
(2) Albers, Annette: Dynamische Straßenraumfreigabe für Nahverkehrsfahrzeuge. In: Der Nahverkehr 4/97, S.19-26
(3) Kloppe, Uwe: Welche Bahnkörperform für welche Verkehrsanforderungen? Überblick über die Einsatzbereiche in Hauptverkehrsstraßen. In: Der Nahverkehr 12/2000, S.15-24
(4) Krug, Henning: Raumstrukturelle Ausprägungen einer Verkehrsreform. In: Geographische Rundschau, 50. Jg. (1999) S.575-579
(5) Müller, Eberstein, Frank und Ingo Wortmann: Flächensparender Vorrang von Straßenbahnen und Bussen: Triviales Problem mit Standardlösungen? Replik auf den Beitrag von Henning Krug in PlanerIn 2/2000. In: PlanerIn 4/2000, S.56-58; sowie Henning Krug: Der ÖV braucht die Stadt... Erwiderung auf eine Replik. S.59-60
(6) Schnüll, Robert: Beschleunigung von Nahverkehrsfahrzeugen. Unkonventionelle Entwurfs- und Steuerungsmaßnahmen... in: Der Nahverkehr 3/97, S. 35-45
(7) Schnüll, Robert: Förderfähigkeit besonderer Bahnkörper nach GVFG. Eine unendliche Geschichte. in: Der Nahverkehr 7-8/03, S. 25ff
(8) von Winning & Partner: Flächensparender ÖPNV-Vorrang zur städtebaulichen Aufwertung von Hauptverkehrsstraßen, Beispiel Halle (Saale). Kassel 1999 (unveröff., demnächst zugänglich unter www.verkehrsplanung.de)
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