Henning Krug

Der ÖV braucht die Stadt

Die Stadt braucht den flächensparenden ÖV

Erwiederung auf eine Replik

Abbildung: Querschnitte - Vergleich vor Knoten [26 KB]

Ich danke den Herren Müller-Eberstein und Wortmann von den Dresdner Verkehrsbetrieben für ihre kritische Stellungnahme zu meinem Beitrag in Planerin 2/00. Die Gelegenheit zur Diskussion der wichtigsten Meinungsverschiedenheiten und Klärung der wichtigsten Missverständnisse greife ich gerne auf.

Angepasste Lösungen statt Trennungsprinzip

In der Stellungnahme klingt mehrfach Kritik an einer zu „generalisierenden Darstellung" bzw. an einer vermeintlichen „Standardlösung Mischverkehr" an. Die Darstellung konzentriert sich in der Tat auf den Mischverkehr. Angesichts der gängigen Praxis besteht hier ein größerer Nachholbe-darf in der Entwicklung von Lösungen. In dem Abschnitt „Staumanagement und Stauvorbeifahrt" wurde jedoch auch deutlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, zwischen Streckenabschnitten mit Mischverkehr und solchen mit getrennter Führung abzuwechseln, in Anpassung an örtliche Situation und Netzzusammenhang. Es wird also gerade keine bestimmte bauliche Lösung „zum generellen Prinzip erhoben", sondern es werden im Gegenteil zusätzliche Freiheitsgrade für eine räumlich angepasste Straßenplanung eröffnet.

Die Pauschallösung mit wesentlich niedrigeren Freiheitsgraden fordern vielmehr Müller-Eberstein und Wortmann selbst. Sie möchten den Mischverkehr auf „bestimmte Problemfälle" beschränkt wissen, in denen der besondere Bahnkörper zu große Nachteile für andere gelange mit sich brächte. Diese Beschränkung beinhaltet keine ausreichend differenzierte Betrachtung der Notwendigkeit eines besonderen Bahnkörpers, die u. a. aufgrund unterschiedlicher Stauwahrscheinlichkeiten teilräumlich sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Gerade die dynamische Straßenraumfreigabe zeigt, dass sich diese teilräumlichen Unterschiede zu Gunsten angepasster und flächensparender Lösungen nutzen lassen.

Die in Planerln 2/00 vorgestellten Lösungsbeispiele stellen dabei sicherlich nur einen Ausschnitt der Möglichkeiten dar. Sowohl die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten als auch die Präzisierung der Wirkungsanalyse können jedoch erst im Zuge der Anwendung weiter entwickelt werden - zur Zeit also noch nicht.

Optimale Einsatzbereiche statt Einsatz-„grenzen"

Müller-Eberstein und Wortmann führen keine stichhaltigen Argumente für die Existenz von Einsatzgrenzen im Hinblick auf die MIV-Menge an. In der zitierten Studie von Schnüll und Albers werden keine signifikanten Korrelationen von MIV-Menge und Störungsintensität festgestellt, obwohl die untersuchten Beispielstraßen nach Aussage der Verfasser baulich nicht optimal auf die Bedingungen der dynamischen Straßenraumfreigabe ausgelegt waren. Es ist nochmals zu betonen, dass für die Frage des Mischverkehrs die MIV-Dichte zu betrachten ist, die im Innerortsverkehr nicht einfach aus der MIV-Menge abgeleitet werden kann. Dies und nur dies bestätigt auch das Beispiel der Königsbrücker Straße in Dresden: Auch dort kann Mischverkehr ohne Verkehrsdichte-(=Stau-)management nicht funktionieren, trotz relativ geringer MIV-Mengen (2.000 Kfz pro Spitzenstunde).

Ein direkter mit der MIV-Menge zusammenhängender Aspekt soll hier noch angesprochen werden: Mit zunehmender Anzahl der Richfungsfahrspuren nimmt die Stabilität der Pulkführung und der relative Flächengewinn durch Mischverkehr ab. Aber auch hier lassen sich keine pauschalen Einsatzgrenzen bestimmen. Generell wird es der Sache gerechter, anstelle von „Einsatzgrenzen" von „optimalen Einsatzbereichen" zu reden und dabei, angesichts der geringen empirischen Erfahrung, auch etwas zurückhaltend zu sein. Im Hinblick auf optimale Einsatzbereiche sind die weiteren Aussagen bei Müller-Eberstein und Wortmann unstrittig.

Fußgänger und Radfahrer

Im Hinblick auf die Funktion des vorgeschlagenen Mittelstreifens scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Der Mittelstreifen kann und soll gerade abseits von Lichtsignalanlagen (LSA) auf längerer Strecke als Querungshilfe dienen. Demgegenüber sind Haltestelleninseln nur punktuell und liegen ohnehin meist an LSA-geregelten Knoten, wo sie die Querungsstrecke für Fußgänger nur nachteilig verlängern. Am Knoten wiederum kann der Mittelstreifen als Linksabbiegerspur füngieren. Daher ist bei Mischverkehr mit Mittelstreifen weder für Haltestelleninseln noch Linksabbiegerspuren eine Fahrbahnaufweitung erforderlich, während bei besonderem Bahnkörper Fahrbahnaufweitung am Knoten von ca. 6 bis 9 m nötig sind, mit enormen Nachteilen auch für Fußgänger und Radfahrer.

Städtebau

Die von Müller-Eberstein und Wortmann er-wähnten Planungen von Mischverkehrsstrecken in Dresden sind mir leider nicht bekannt. Eine leichte Gleisverschwenkung an der Haltestelle halte ich jedoch in der Regel für städtebaulich vertretbar, gerade wenn dadurch die räumlich wirksameren baulichen Elemente (Bordstein, Allee) in der Achse bleiben können. Größere Gleisverschwenkungen und Fahrbahnverbreiterungen für Linksabbieger sind dagegen nicht nur ein gestalterisches Problem linearer Straßenräume (Fahrkomfort, Lärm, Verschleiß). Hier stellt der Mittelstreifen eine gestalterische und funktionale Option dar, gerade für Straßen mit hohem Querungsbedarf und Erschließungsfunktion, also gerade dort, wo der Mischverkehr aufgrund der Nutzungskonkurrenzen um knappe Flächen besonders vorteilhaft ist.

Motorisierter Individualverkehr

Ergebnis des notwendigen Staumanagements kann durchaus auch sein, dass Zufahrten zu LSA-geregelten Knoten durch Dosierung an anderer Stelle staufrei bleiben bzw. bei ÖV-Annäherung rechtzeitig geräumt werden können. Nur in solchen Fällen wird vorgeschlagen, die Flächengewinne durch Mischverkehr auch zu realisieren; z. B. für zusätzliche Spuren in der Knotenzufahrt. Begrenzte Kapazitäten können also durchaus ein Argument für Mischverkehr sein. Nicht die MIV-Menge, sondern die MIV-Dichte ist entscheidend.

Der ÖV braucht die Stadt - die Stadt braucht den flächensparenden ÖV

Müller-Eberstein/Wortmann führen die „grüne Welle" als Argument gegen Haltestellen im Mischverkehr am Fahrbahnrand an. Fordern sie also, dass die ÖV-Fahrgäste auf den Komfort und die Sicherheit des Wartens auf dem Bürgersteig verzichten müssen, damit der MIV „fließt"? Und wie halten sie es dann mit dem generellen Konflikt zwischen „grüner Welle" und ÖV-Grünanforderung?

Vermutlich ist der Einwand aber nicht so, sondern als hilfreichen Hinweis auf die für das in Planerin 2/00 skizzierte Konzept notwendige ÖV-Priorisierung zu interpretieren, die derzeit keineswegs selbstverständlich ist. Schließlich geht es in dieser Hinsicht wesentlich weiter als die gängige Praxis: der MIV fährt hinter dem ÖV her und hält an Haltestellen ebenfalls an (Pulkführung), die Signalisierung wird stärker auf den ÖV-spezifischen Rhythmus von Fahren und Halten abgestimmt und bei hoher MIV-Dichte überholt der ÖV den MIV (Stauvorbeifahrt). Auch wenn die Störanfälligkeit teilweise etwas größer sein kann, im Verhältnis von ÖV und MIV sind eindeutig positive Wirkungen auf Komfort, Reisezeit und Image zugunsten des ÖV zu erwarten. Die notwendige Priorisierung des ÖV als stadtverträglichstes motorisiertes Verkehrsmittel ist fachlich leicht zu begründen. Die notwendige offensive politische Auseinandersetzung verspricht jedoch nur dann Erfolg, wenn sie die originären Effizienzvorteile des ÖV betont und nicht das Trennungsprinzip als optimale Organisationsform darstellt und damit den entscheidenden Flächenvorteil des ÖV verwischt.

Darüber hinaus gründen die in Planerin 2/00 skizzierten Vorschläge auf der Erkenntnis, wie wichtig eine flächensparende und städtebaulich angepasste Verkehrsabwicklung für qualitätvolle öffentliche Straßenräume ist, und wie wichtig wiederum diese für die Attraktivität der dicht bebauten und gemischt genutzten Stadt sind. Welches Beispiel zeigt dies drastischer als die derzeitige Planung für die Königsbrücker Straße in Dresden. Gerade für die Attraktivität ÖV-orientierter Stadtstrukturen sind die zugrundeliegenden bundes- und landespolitischen Vorgaben fatal. Ich hoffe unsere Auseinandersetzung trägt dazu bei, diese Vorgaben zu verändern.