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AG Integrierte Verkehrsplanung

BERICHTE ZUR VERKEHRSPLANUNG

NR. 11 / April 2000

Neue Ansätze zur verkehrlichen Nutzenmessung

von Henning Krug

Eine erste Annäherung am Beispiel einer RegioTram-Planung

Warum neue Ansätze zur verkehrlichen Nutzenmessung?

Welches ist der verkehrliche Nutzen einer neuen RegioTram-Verbindung? Wie mißt man verkehrlichen Nutzen überhaupt? So elementar wie diese Fragen klingen, so unbefriedigend sind bis heute die Antworten geblieben, die die Verkehrswissenschaft darauf zu geben vermag. Fast alle einschlägigen Verfahren der Maßnahmenbewertung messen vorwiegend oder ausschließlich Indikatoren des Verkehrsaufwandes; namentlich den Aufwand an Geld, Zeit, Boden, Energie, sauberer Luft, Ruhe, Gesundheit, Leben etc. (z. B. standardisierte Bewertung für ÖPNV-Investitionen, Richtlinien für die Anlage von Straßen RAS-W oder Bewertungsverfahren Bundesverkehrswegeplan). Auch Reisezeit ist Aufwand; "Reisezeit"gewinne bedeuten lediglich, daß eine bestimmte Verkehrsnachfrage mit weniger Aufwand erfüllt werden kann. Die Befunde konstanter oder sogar leicht zunehmender Reisezeitbudgets lassen vermuten, dass Reisezeit"gewinne" ohnehin ein vorwiegend analytisches Kunstprodukt sind. Ob die statt dessen feststellbaren Entfernungszunahmen einen höheren Nutzen anzeigen, bleibt ungewiss. Um dies dennoch zu bejahen, müssen die o. a. nachfrageorientierten Bewertungsverfahren auf eine Grundannahme der ökonomischen Theorie zurückgreifen: die Annahme vollkommener Märkte. im Verkehrsbereich. Diese Annahme trifft jedoch bereits 1978 bei Thomson (209f) auf zwei schwerwiegende Einwände. Erstens sind die Preise aufgrund zahlreicher externer Effekte nicht an den Grenzkosten ausgerichtet. Zweitens könnten auch ideale Marktbedingungen nicht verhindern, daß unzählige marginale Wahlentscheidungen eine nichtmarginale Veränderung herbeiführen, die vorher bei keinem Entscheidungsträger zu den Alternativen gehört hat. In der Summe marginaler Veränderungen des Verkehrssystems ergeben sich Umwälzungen der Siedlungsstruktur. Die Schlagworte "Verlust der Nähe" und "Verlust der ÖV-Affinität" machen deutlich, dass dies erhebliche negative Konsequenzen für verkehrlichen Nutzen in sich birgt, die in einem Nachfrage-Indikator jedoch fälschlicherweise eher positiv zu Buche schlagen.

Die hier nur kurz angerissene Problematik nachfrageorientierter Bewertungsansätze führt zur Frage nach Alternativen. Hierfür harrt seit Jahrzehnten ein Ansatz seiner Verwendung, der unter den Begriffen Erreichbarkeiten (Michael 1993), Aktivitätschancen (Volkmar 1984), Wahlmöglichkeiten (Topp 1989), Raumzeitliche Freiheitsgrade (Kreibich, u.a. 1987), Teilnahmechancen (Beckmann 1988) und Wahlfreiheiten (Sammer 1992) zwar immer wieder Fürsprecher hat, jedoch nach wie vor relativ unausgereift ist und kaum Anwendung findet. Die Problematik der Interpretation von Verhalten stellt sich hier nicht, da nicht dieses, sondern die Verhaltensmöglichkeiten gemessen werden, namentlich die Möglichkeiten, aus mehreren Gelegenheiten zur Ausübung ortsgebundener Aktivitäten auszuwählen (Wahlmöglichkeiten). Dabei wird angenommen, daß mit der Zahl der Gelegenheiten die Chance wächst, besonders geeignete Gelegenheiten zur Befriedigung verschiedenster Bedürfnisse zu finden (vgl. Hensel u.a. 1978, 13; ebenso Koenig 1980, 147, sowie wohlfahrtstheoretisch vertieft bei Dahrendorf 1987 und Sen 1987). Damit wächst dann folglich auch der Nutzen eines Verkehrsangebots oder einer Ortsveränderung.

Im Folgenden wird ein Ansatz vorgestellt, Wahlmöglichkeiten zur verkehrlichen Bewertung einer konkreten ÖV-Planung zu operationalisieren.
 

Der Untersuchungszusammenhang

Den inhaltlichen Rahmen für die Entwicklung eines Wahlmöglichkeiten-Indikators gab im vorliegenden Fall eine Untersuchung der geplanten RegioTram-Verbindung Kassel ­ Warburg (Untersuchungsbericht: Grams u.a. 1999). Hier waren Aussagen zu dem verkehrlichen Nutzen der RegioTram für zehn bestehende bzw. geplante Haltepunkte und ihren Einzugsbereich gefordert. Aus diesen Aussagen wurden dann im weiteren hier nicht vorgestellten Verfahren Bodenwertveränderungen abgeleitet als Indikator einer verkehrsbedingt gesteigerten Wertschätzung dieser Siedlungsflächen und einer möglichen SPNV-induzierten Siedlungsentwicklung.
 

Planungsfall RegioTram

Als maßgeblicher Planungsfall wurde die derzeitige Planung des Aufgabenträgers Nordhessischer Verkehrsverbund (NVV) übernommen (s. Karte Seiten 6 u. 7). Die wesentlichen Veränderungen gegenüber dem Status Quo sind:

- Liniendurchbindung am Hauptbahnhof Kassel durch die Innenstadt in Richtung Kaufungen (Heute: Endstation Hbf).

- Taktverdichtung auf einen Halbstundentakt (heute: Zweistundentakt an RB-Haltepunkten, an RE-Haltepunkten zusätzlich RE-Bedienung im Zweistundentakt; RB und RE ergänzen sich jedoch nicht zu einem Stundentakt).

- Wiederinbetriebnahme der Haltepunkte in Haueda und Lamerden sowie Einrichtung neuer Haltepunkte in Ostheim, Eberschütz und fünf weiterer Haltepunkte in Kassel und Vellmar.

Der Wahlmöglichkeiten-Indikator musste daher sensibel sein für Veränderungen in Lage und Anzahl von Haltepunkten, Bedienungshäufigkeit, Strecken- und Linienführung und Linienverknüpfung. Weitere Faktoren des Verkehrsangebots wie Komfort- und Serviceaspekte waren im Rahmen des konkreten Untersuchungszusammenhangs nicht relevant.
 

Planungsfall RegioTram plus Siedlungsentwicklung

Neben den direkten Wirkungen der ÖV-Verbesserung auf Wahlmöglichkeiten sollten auch diejenigen Wirkungen beachtet werden, die sich aus einer ÖV-induzierten und ÖV-orientieren Siedlungsentwicklung an den Haltepunkten ergeben können. Dabei stand jedoch nicht die schwierige Aufgabe einer Prognose der zu erwartenden Siedlungsentwicklung im Vordergrund. Dieser Planungsfall sollte lediglich sicherstellen, daß der zu bildende Wahlmöglichkeiten-Indikator auch die Wirkungen der Siedlungsentwicklung abbilden kann.
 

Wahlmöglichkeiten als "Gewichteter Gelegenheits-indikator"

Die zwei wesentlichen Bestimmungsgrößen von Erreichbarkeiten oder Wahlmöglichkeiten sind:

- Anzahl und Qualität der Gelegenheiten zur Ausübung ortsgebundener Aktivitäten.

- Der Verkehrsaufwand, mit dem diese Gelegenheiten erreicht werden können.

Entscheidend für die Qualität des Bewertungsansatzes ist nun, wie diese beiden Bestimmungsgrößen miteinander verknüpft werden. Aus Gründen der leichten Handhabbarkeit wird in den ausgewerteten Studien meist folgender Weg gewählt: Eine bestimmte Anzahl und Art an Gelegenheiten (Zentren, Schulen, Parkanlagen o.ä.) wird vorgegeben und der zum Erreichen dieser Orte notwendige Verkehraufwand gemessen. Dieser Ansatz, Volkmar nannte ihn 1984 "Aufwandsindikator", umgeht das eingangs angedeutete Problem der Interpretation der Verkehrsnachfrage durch Setzungen des Analytikers. Dies mag für Fahrtzweck-spezifische Untersuchungen sicher sinnvoll sein, nicht jedoch für gesamtverkehrliche Bewertungen. Die andere Möglichkeit ist, den maximalen Verkehrsaufwand vorzugeben und die damit erreichbaren Gelegenheiten zu messen. Dieser Ansatz abstrahiert in seiner einfachsten Form ("Gelegenheitenindikator" bei Volkmar) aufgrund der starren Aufwandsgrenzen sehr stark von der realen Entscheidungssituation ­ zugunsten von Rechenaufwand und Transparenz. Der eigenen Untersuchung wurde daher der "gewichtete Gelegenheitsindikator" (Koenig 1980) zugrunde gelegt. Er berücksichtigt durch Gewichtung der Gelegenheiten mit dem jeweiligen Verkehrsaufwand, daß die Gelegenheiten innerhalb des maximalen Verkehrsaufwands unterschiedlich gut erreichbar sind.

Gefragt war also nach den von jedem der zehn untersuchten Haltepunkte aus erreichbaren gewichteten Gelegenheiten. Ihre Summe ergab die Wahlmöglichkeiten für einen Standort. Zur Berechnung der Wahlmöglichkeiten für die zehn untersuchten Haltestelleneinzugsbereiche wurde die räumliche Verteilung der Gelegenheiten (siehe Teilmodell Siedlungsstruktur) mit den ÖV-Qualitäten (siehe Teilmodell Verkehrsangebot) in Relation gebracht. Jeweils für den Status Quo und die beiden Planungsfälle wurde eine entsprechende Verkehrsmatrix "Wahlmöglichkeitsäquivalente" angefertigt; diese dienten jeweils auch als Grundlage für die angeschlossene in diesem Aufsatz jedoch nicht dargestellte Sensitivitätsanalyse und Bodenwertabschätzung.
 

Teilmodell Siedlungsstruktur

Räumliche Maßstäblichkeit: Erhebungs- und Aussageeinheit

Zahlreiche Studien bestätigen die überragende Bedeutung des zu Fuß Gehens (gegenüber Fahrrad, Pkw und Bus) für die Wege zwischen ÖV-Haltestelle und Quelle oder Ziel (z. B. im Verkehrsverbund Bremen Niedersachsen, NVP 1997: 87%). Als ÖV-erreichbar bzw. -wahlmöglich können in erster Näherung jeweils nur relativ kleine Ausschnitte der Siedlungsfläche im Umfeld einer Ziel-Haltestelle angesehen werden. Die räumliche Differenzierung muss deshalb wesentlich feinkörniger sein, als gängige Statistiken der Einwohner-Arbeitsplatz-Verteilung, der Siedlungsdichte o.ä.. Für die hier behandelte Untersuchung wurden als räumliche Erhebungseinheit Flächenquadrate mit 500 m Kantenlänge (25 ha) ausgewählt. Damit entstand ein Raster, das den Siedlungsraum flächig abdeckt und flexibel ist für Erweiterungen des Untersuchungsraums oder die Berücksichtigung beliebiger Netzvarianten. Ein Haltestelleneinzugsbereich wurde definiert als Fläche aus vier Quadraten (100 ha). Diese Größe erscheint für die spezifische Fragestellung einer RegioTram-Anbindung angemessen. Die Qualifizierung eines Flächenquadrats als Einzugsbereich einer Zielhaltestelle erfolgte nach festen Regeln. Flächen, die außerhalb der so als Einzugsbereich qualifizierten Flächenquadrate liegen, wurden als nicht erreichbar eingestuft.

Vom ÖV-Angebot und seiner Verbesserung profitieren also jeweils nur relativ kleine Flächen im Umfeld der Haltepunkte, ob auf der direkt betroffenen Linie oder auf Linien, die mit dieser vernetzt sind. Die Ergebnisaussagen beziehen sich nie auf einen ganzen Ort oder gar ein Gemeindegebiet. Die ermittelten Wahlmöglichkeiten und ihre Verbesserung gelten nur für die Haltestelleneinzugsbereiche für Fußgänger, also kreisförmige Flächen von ca. 50 ­ 100 ha.
 

Datengrundlage

Als Datenquelle wurde die Topographische Karte im Maßstab 1:50.000 (TK50) ausgewählt. Gängige Statistiken mit Einwohner-Arbeitsplatz-Daten, Dichtemaßen o. ä. schieden mangels kleinräumiger Differenzierung wie oben gefordert von vorneherein aus. Die in der TK50 dargestellten Baustrukturen und Flächennutzungen sind demgegenüber in der gewählten Maßstäblichkeit hinreichend präzise erkennbar und eignen sich grundsätzlich als Indikator für Gelegenheiten (s. Tab. 1). Darüber hinaus ist die TK50 leicht verfügbar und wäre auch für entsprechende Anwendungen in anderen Regionen mindestens bundeweit ausreichend vereinheitlicht.
 

Siedlungstypen
und Gelegenheitsäquivalent

Infolge der bisherigen Festlegungen ist nun zu überlegen, wie aus der TK50 für ein Flächenquadrat von 500x500m die darin enthaltene Anzahl an Gelegenheiten ermittelt werden kann. Ziel war eine gesamtverkehrliche Bewertung, also keine Beschränkung auf bestimmte Verkehrszwecke bzw. Aktivitäten. Das Ziel, möglichst viele Nutzungen bzw. Aktivitäten einzubeziehen, spricht dabei für die Bildung eines dimensionslosen Gelegenheitsäquivalents. Zwar könnte man z.B. die Größe der bebauten Fläche messen und hätte damit einen relativ nutzungsneutralen Indikator in der Dimension Fläche (sogar rational skaliert und damit alle mathematischen Operationen ohne Einschränkung erlaubend). Eine Messung dieses Indikators nach Augenschein wäre hier jedoch nicht ausreichend zuverlässig; durch die sehr unterschiedlichen baulichen Strukturen können erhebliche Fehler in der Einschätzung der Größe der bebauten Fläche auftreten. Die hierfür notwendige EDV-Unterstützung (GIS) stand den Bearbeitern nicht zur Verfügung und ist auch im Sinne der Übertragbarkeit der Methode (noch) nicht zweckmäßig.

Für die angestrebte "Messung" nach Augenschein läßt sich die Tatsache ausnutzen, daß bestimmte Nutzungsdichten (also Gelegenheitendichten) auch meist mit spezifischen Gebäudeformen bzw. städtebaulichen Typologien einhergehen. Demzufolge wurden hier Baustruktur-Typen gleicher oder ähnlicher Gelegenheitendichte definiert, die in der TK50 gut unterscheidbar sind. Diesen Typen wurden Gelegenheitsäquivalente zugeordnet (s. Tab. 1). Eine Unterscheidung von drei Gelegenheitsäquivalenten (bzw. vier inkl. der Gruppe "keine Gelegenheiten") erschien dabei grob genug, um eine einfache Anwendung und hohe Zuverlässigkeit der Methode zu gewährleisten. Andererseits dürfte sie noch fein genug sein, um unterschiedliche siedlungsplanerische Reaktionen auf die RegioTram (Planungsfall RegioTram Plus) angemessen zu erfassen.
 

Tab. 1: Klassifizierung und Gewichtung der Siedlungstypen nach Gelegenheitsäquivalenten
 

Die gewählte Abstufung der Gelegenheitsäquivalente fußt im wesentlichen auf den Unterschieden in der baulichen Dichte: der dichteste Typ A erhält den Wert 100, um eine einfache Umrechnung und Einschätzung der Endergebnisse zu ermöglichen (hat z. B. ein Standort ÖV-Wahlmöglichkeiten von 500 so entspricht dies 5 Flächenquadraten des Typs A in unmittelbarer Nähe, also theoretisch ohne Verkehrsaufwand erreichbar.) Flächenquadrate, die zwischen 25 und 75% von einer der in der Tab. 1 genannten Nutzungen überdeckt waren, wurden mit halber Wertigkeit angesetzt; darunter ohne Wert. Die besonderen Wahlmöglichkeitsvorteile durch eine Umsteigemöglichkeit auf überregionale SPNV-Angebote wurden aus Gründen der Vereinfachung desjenigen Verkehrsmodells nicht dort (s. u.), sondern mittels eines pauschalen Aufschlags von 200 auf den Gelegenheitsäquivalent des Flächenquadrats gewürdigt, in dem der Bahnhof liegt.
 

Teilmodell Verkehrssystem

Das Liniennetz mit den Zugangspunkten, die Beförderungsgeschwindigkeit und die Bedienungshäufigkeit waren in der RegioTram-Studie die Hauptkomponenten des Verkehrsmodells. Reiszeit und Bedienungshäufigkeit wurden als Verkehrsaufwand interpretiert. Für jeden der zehn untersuchten Haltestellen-Einzugsbereiche an der RegioTram-Strecke wurde der Verkehrsaufwand bei ÖV-Fahrten zu anderen Siedlungsflächen ermittelt. Siedlungsflächen außerhalb bestimmter Aufwandsgrenzen wurden als nicht erreichbar eingestuft. Der Gelegenheitsäquivalent jedes erreichbaren Flächenquadrats wurde in der Art einer Widerstandsfunktion mit dem ermittelten Verkehrsaufwand gewichtet. Die Summe der gewichteten Gelegenheitsäquivalente ergibt die Wahlmöglichkeiten eines der untersuchten Haltestelleneinzugsbereiche. Die Gelegenheiten, die der jeweilige Haltestelleneinzugsbereich selbst bietet, werden dabei ausgeklammert, da für diese nicht der ÖV benutzt werden muß.
 

Reisezeit

Es wurden Zeitzonen gebildet und eine zur Reisezeitzunahme in erster Näherung proportionale Abnahme der Attraktivität von Zielen angenommen (s. Tab. 2). Gelegenheiten außerhalb eines Zeitlimits von 50 Min. wurden als nicht erreichbar eingestuft (Anwendungsfall Nah- und Regionalverkehr!). Die Karte (Seiten 6 u. 7) zeigt die im Planungsfall RegioTram innerhalb einer Reisezeit von 50 Min. von einer der zehn untersuchten Haltestellen erreichbaren Streckenabschnitte.
 
 

Tab. 2: Klassifizierung und Gewichtung der Reisezeiten

bis 20Min . 1

21 bis 30 Min. 0,8

31 bis 40 Min. 0,6

41 bis 50 Min. 0,4

> 51 Min. 0
 
 

Zugangs- und Wartezeit

Die Wartezeit an der Einstiegshaltestelle wurde im städtischen und regionalen Nahverkehr pauschal mit 4 Min. veranschlagt. Für die Zugangszeit wurde von einem fiktiven Haltestelleneinzugsbereich mit 500m Radius ausgegangen und eine mittlere Zugangszeit von 5 Min. (360m) veranschlagt. Komfort, Sicherheit und Umwegigkeit von Haltestellenzugang und -aufenthalt könnten per pauschalem Zeitaufschlag einbezogen werden. Entsprechend kleinräumige Analysen waren im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht durchführbar. Die Gesamtzeit für Zugang und Warten beträgt somit pauschal 9 Min.
 

Beförderungszeit

Die Beförderungszeit wurde für den Status Quo wie für den Planungsfall RegioTram aus dem heutigen Fahrplan der Regionalbahn ermittelt. D. h. es wurde davon ausgegangen, daß sich im Planungsfall RegioTram die Effekte zusätzlicher Haltestellen und die Effekte höherer Beschleunigung in etwa ausgleichen werden.
 

Umsteigen

Für den Zeit- und Komfortverlust durch Umsteigen wurde ein pauschaler Zeitaufschlag von 10 Min. für das erste Umsteigen hinzu addiert. Dies setzt bereits einen gut abgestimmten Fahrplan (Integraler Taktfahrplan, ITF) voraus mit reinen Wartezeiten von max. 5 Minuten. Verkehrsbeziehungen für die ein zweimaliges Umsteigen nötig ist, wurden aufgrund des erheblichen Qualitätsverlustes nicht einbezogen, entsprechende Gelegenheiten also wiederum als in erster Näherung nicht erreichbar angesehen.
 

Abgangszeit

Die Abgangszeit wurde wie die Zugangszeit pauschal mit 5 Minuten veranschlagt. Entfernungsbedingte Unterschiede innerhalb des Einzugsbereichs der Zielhaltestelle wurden ausgeblendet. Ein Haltestelleneinzugsbereich wurde somit nur dann als erreichbar eingestuft, wenn noch mindestens 5 Min. Reisezeit verbleiben.
 

Bedienungsqualität

Neben der Reisezeit stellte die Bedienungshäufigkeit in der RegioTram-Studie den zweiten wichtigen Faktor des Verkehrsaufwands dar. Zwar wird die Fahrt selbst in Abhängigkeit der Bedienungshäufigkeit weder länger, teurer oder unkomfortabler, jedoch sind gerade im Nah- und Regionalverkehr Aspekte der Spontanität zur ÖV-Nutzung bzw. der Notwendigkeit sein Aktivitätenprogramm an den Fahrplan anzupassen für den Verkehrswiderstand im ÖV zwischen zwei Orten von maßgeblicher Bedeutung. Daher wurden auch für die Bedienungshäufigkeit Gewichtungsfaktoren und Widerstandsgrenzen gesetzt. Dabei sind Qualitätssprünge zu berücksichtigen. Ein sehr großer Qualitätssprung dürfte etwa an der Grenze zu einem 7,5- oder 10-Minuten-Takt liegen. Bei solchen oder größeren Bedienungshäufigkeiten sind die Wartezeiten bei spontanem Zugang ohne Fahrplankenntnis gleich den Wartezeiten bei Fahrplanbenutzung. Darunter wurden je nach Zeitabständen zwischen den Bedienungen unterschiedliche Grade der Anpassung des Aktivitätenprogramms angenommen. Die beiden höchsten Klassen in der folgenden Aufstellung spielen in der vorliegenden Untersuchung direkt keine Rolle ­ jede Verkehrsbeziehung wird immer mit dem schlechtesten Takt bewertet und der ist im besten Fall der Halbstundentakt der RegioTram. Die Gesamtdarstellung der Bedienungshäufigkeiten in Tab. 3 dient einer besseren Einschätzung der relativen Qualitätsunterschiede.
 

Tab. 3: Klassifizierung und Gewichtung der Bedienungshäufigkeit (NVZ)

>= 6 / h spontaner Fahrtantritt 1
ohne Fahrplan

3 - 5 / h Fahrplanbenutzung zwingend, 0,7
aber noch keine Anpassung
der Termine

2 / h Anpassung der 0,5
Termine erforderlich

1 / h stärkere Anpassung 0,3
erforderlich

1 / 2h starke Einschränkung 0,2
 
 

Bei der Festlegung der Gewichtungsfaktoren waren zusätzlich folgende Punkte zu berücksichtigen:

- Die Verteilung der Bedienungshäufigkeit über den Tag wurde für den vorliegenden Anwendungsfall als an die Bedienungshäufigkeit in der Normalverkehrszeit gekoppelt angenommen und bei der Spreizung der Gewichtungsfaktoren berücksichtigt.

- Es wurde nicht nach Wochentagen differenziert (Werktag, Sonntag u. a.). Die Bewertung orientiert sich an den Merkmalen eines Werktages. Um die z. T. extremen Angebotseinschränkungen an Sonn- und Feiertagen dennoch einzubeziehen wurde ein Mindestangebot von 6 Bedienungen pro Richtung als Ausschlußkriterium definiert.

- Wird die ermittelte Bedienungshäufigkeit nicht im Taktverkehr angeboten, dann wurde der Verbindung die nächst niedrigere Qualitätsstufe zugeordnet.
 

Wahlmöglichkeitsverbesserungen in den Planungsfällen

Eine Gegenüberstellung von Status Quo und Planungsfall RegioTram ergibt bei allen untersuchten Orten eine drastische Verbesserung der ÖV-Wahlmöglichkeiten um den Faktor drei bis sieben (s. Tab. 4) Für den Planungsfall Regiotram plus Siedlungsentwicklung wurde eine intensive ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung an den RegioTram-Haltepunkten simuliert, indem die zugehörigen Flächenquadrate in ihrem Siedlungstyp um eine Stufe aufgewertet wurden, sofern sie nicht schon zum höchsten A-Typ zählten. Die ÖV-Wahlmöglichkeiten verdoppeln sich dadurch nochmals. Im Ergebnis können sehr peripher gelegene kleine Ortschaften wie Lamerden doppelt so viele ÖV-Wahlmöglichkeiten durch öffentliche Verkehrsangebote plus ÖV-orientierte Siedlungsentwicklung erhalten, wie sie sehr nah bei Kassel liegende Orte wie Mönchehof im Status Quo haben (s. Karte auf den Seiten 6 u. 7). Ein Äquivalent von z. B. 900 entspricht dabei einem theoretischen Gelegenheiten-Angebot von 225 ha urbaner Siedlungsfläche des Typs A, die völlig ohne Verkehrsaufwand erreichbar, also quasi "vor der Haustür" in einem Punkt konzentriert sind.

Die weiteren Schritte der hier vorgestellten Untersuchung sind für das allgemeine Verständnis des Wahlmöglichkeiten-Indikators irrelevant und werden hier ausgeklammert.
 

Tab. 4: Wahlmöglichkeitsäquivalente Status Quo und Planungsfälle

A B C D E
Status Quo Planungsfall B / A Planungsfall D / B
RegioTram RegioTram Plus

Haueda 100 560 5,6 130 2,3
Liebenau 180 610 3,4 1420 2,3
Ostheim 100 600 6,0 1430 2,4
Lamerden 100 670 6,7 1540 2,3
Eberschütz 100 770 7,7 1730 2,2
Hümme 280 900 3,2 1860 2,1
Hofgeismar 260 1020 3,9 2000 2,0
Grebenstein 320 1150 3,6 2150 1,9
Immenhausen 470 1430 3,0 2410 1,7
Mönchehof 610 1790 2,9 2780 1,6
 

Qualitäten und Weiterentwicklung des Wahlmöglichkeiten-Ansatzes

Bei der Entwicklung eines Wahlmöglichkeit-Indikators betritt man weitgehend Neuland. Die erläuterten Festlegungen zur Auswahl, Stufung und Gewichtung der Faktoren haben daher mehr den Charakter von ersten Arbeitshypothesen als von allgemein anerkannten "Regeln der Kunst". Dies mindert jedoch zumindest nicht den heuristischen Wert des hier vorgestellten Ansatzes als ein Beispiel für die Operationalisierung von Wahlmöglichkeiten für Analyse- oder Planungsaufgaben. Seine Vertiefung und Eichung im weiteren fachlichen Diskurs erscheint angesichts folgender offenkundiger Qualitäten lohnend, wenn nicht sogar geboten:

- Eine Wahlmöglichkeiten-Bewertung setzt unmittelbar am Nutzen an, den die Menschen durch Ortsveränderungen zu erzielen suchen. Die Problematik nachfrageorientierter Ansätze wird vermieden (siehe oben).

- In seiner Grundform ist der Wahlmöglichkeiten-Indikator sehr transparent und anschaulich. Auch für verfeinerte Anwendungen lässt sich ein relativ hohes Maß an Nachvollziehbarkeit erzielen.

- Der Aufwand für Datenerhebung und Analyse ist moderat.

- Verkehrssystem und Siedlungsstruktur werden ­ wie vielerorts gefordert ­ von Anfang an integrativ betrachtet; eine wesentliche Voraussetzung für die Berücksichtigungen der starken Wechselwirkungen.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass der Wahlmöglichkeiten-Indikator einen wertvollen Beitrag zur Versachlichung der Mobilitätsdebatte leisten kann. Vom Ansatz her weist er dabei eine große Offenheit für diverse Anwendungen der verkehrlichen Bewertung in den Handlungsfeldern der Verkehrs- und Siedlungsplanung und -politik auf. Für die verschiedenen denkbaren Anwendungen müssen die Teilmodelle Siedlungsstruktur und Verkehrssystem jeweils spezifisch operationalisiert werden. Um diese Anwendungspotentiale zu erschließen, muss der Wahlmöglichkeiten-Indikator insbesondere in folgenden Punkten weiter entwickelt werden:

- Einbeziehung weiterer Merkmale des ÖV-Angebots: qualitative Aspekte/ Komfort, Zeit"gewinne" durch Nebenbeiaktivitäten, Kosten/ Preise, Zugänglichkeit (wie z. B. bei Pohlmann 1995)

- Einbeziehung aller Verkehrsmittel mit ihren spezifischen Merkmalen sowie der Wechselwirkungen zwischen den Verkehrsmitteln
 

- Entwicklung eines Verfahrens zur computergestützten Ermittlung der Gelegenheitsäquivalente (Karten- oder Satellitenbildauswertung)

- Bildung von Bewertungsmaßstäben und Vergleichsmöglichkeiten für die noch relativ abstrakten Äquivalente; Verwertbarkeit in Nutzen-Kosten-Untersuchungen gewährleisten

- Generelle Überprüfung der Kausalitätsvermutungen; sorgfältiger Abgleich von Stufung und Gewichtung mit empirischem Wissen und anderen Studien; Sensitivitätsanalysen.


Literatur:

Bahman, R. (1988): Basiserschließung: Erschließungsstandards durch den öffentlichen Verkehr in Abhängigkeit von der Angebots- und Nachfragestruktur. Zürich

Beckmann, K. J. (1988): Veränderte Verkehrskonzepte ­ Konsequenzen für die Regionalplanung. in: Holzapfel, H. (Hrsg.): Ökologische Verkehrsplanung; Frankfurt a. M.; S.127-161

Dahrendorf, R. (1987): Lebenschancen. Anläufe zu einer sozialen und politischen Theorie. Frankfurt a. M.

Grams, M., H. Krug, B. Schmidt und C. Diegel (1999): Schienennahverkehrssyteme und Siedlungsentwicklung. Untersuchung zur Ermittlung und Darstellung siedlungsstruktureller Effekte bei Einführung moderner Schienennahverkehrssysteme

Hensel, H., G. Harloff. und P. Mäcke (1978): Nutzungsverteilung und Verkehr ­ Verkehrliche Auswirkungen städtebaulicher Verdichtung... Dortmund (ILS-Materialien, 4.009)

Koenig, J. G. (1980): Indicators of Urban Accessibility: Theory and Application. In: Transportation Vol. 9, S. 145-172

Kreibich, V., B. Kreibich und G. Ruhl (1987): Aktionsraumforschung in der Landes- und Raumplanung. Entwicklung eines Raum-Zeit-Modells. Dortmund, 1987

Krug, H. (1994): Wahlmöglichkeiten als Zielgröße der Stadtverkehrsplanung. Eine Modellrechnung in Siedlungstypen (unveröff. Diplomarbeit)

Michael, R. (1993): Erreichbarkeitsanalysen für öffentlichen und privaten Verkehr in Stadt und Region. in: Apel, D. u.a. (Hrsg.): Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung; Loseblattsammlung. Bonn

Pohlmann, H.-J.(1995): Regionaler ÖPNV im Ruhrgebiet. ÖPNV-Erreichbarkeiten in einem Agglomerationsraum und die Berücksichtigung subjektiver Wahrnehmung und Bewertung. Dortmund

Sammer, G. (1992): Siedlungsentwicklung und Verkehrssystemplanung. in: Bökemann, D. (Hrsg.): Siedlungsentwicklung und Verkehrssystemplanung; Wien,

Thomson, J. M. (1978): Grundlagen der Verkehrspolitik. Bern, Stuttgart

Topp, H (1989).: Gibt es für Stadt und Auto eine gemeinsame Zukunft? in: Raumforschung und Raumordnung, 47. Jg., Heft 5-6, S.325-334

Sen, A. (1987): The Standard of Living: Lecture II. Lives and Capabilities. In: Sen (Hg.): The Standard of Living: The Tanner Lectures. Cambridge

Volkmar, H. F. (1984): Räumliche und zeitliche Aktivitätschancen. Berlin