Städtisch auch am Stadtrand –

Ein Beitrag zu Einzelhandel, Versorgung, Verkehr

Die Argumentationskette für den Standort "grüne Wiese" beginnt, wie viele ähnliche, mit einem Axiom, einem Glaubenssatz, einem nicht bewiesenen, nicht beweisbaren und keinen Beweis erfordernden Glaubenssatz: "Die Vorzeichen der allgemeinen Entwicklung der Daseinsbereiche ist auf ... die Verstärkung dezentraler, verkehrsorientierter Versorgungsstrukturen gerichtet" (aus einem Gutachten zu Einzelhandel und Städtebau). Darauf baut eine scheinbar schlüssige Beweiskette auf:

Aus betriebswirtschaftlicher Logik unabweisbar: Eingeschossig, groß, monofunktional und autogerecht

Der Kunde und der Gabelstapler überwindet ungern Stockwerke. Je größer das Angebot - und damit die Verkaufsfläche - umso lieber ist es ihm. Die Monofunktionalität stört nicht bei seltenen Besuchen. Hauptsache man kommt gut mit dem Auto hin und hat weder Stau noch Parkplatzüberfüllung. All das führt, weil gut rationalisierbar, zu niedrigen Preisen - je weiter weg von der Stadt, umso niedriger wegen der günstigeren Grundstückspreise. Welcher Planer sollte das verweigern!

Der Kunde rechnet kaum die Kosten der Autofahrt (jeder Ökonom kennt den Selbstbetrug der Grenzkostenrechnung), auch macht er sich keine Nebenwirkungen klar: die treffen ihn ja auch nicht direkt selbst, sondern nur unkontrollierbare Teilkollektive; und denen - so meint er - kann er sich als der Tüchtigere entziehen.

Der Einzelhändler trägt diese Wünsche weiter - in die Öffentlichkeit, in die Politik, in die Stadtplanung. Die Verbände - Sprecher der Großen - sind geradezu fixiert auf die Ausweitung des Autosystems. Was eigentlich "Stadt" bedeutet, gerät in Vergessenheit. Gerade unter immensem Konkurrenzdruck gibt es in städtischer Form allenfalls das "Einkaufszentrum historische Innenstadt", das mit dem originalen, besonderen Ambiente und natürlich mit gleichwertiger Auto-Erreichbarkeit wie die anderen "Zentren". Es muß diskutiert werden, ob hier nicht aus erweiterter Sicht einige fatale Fehlschlüsse gezogen werden.

Mangelnde städtebauliche Dichte: Flächenverschwendung und geringe Erreichbarkeiten im Fußgänger-, Rad- und Öffentlichen Verkehr

"Stadt" heißt Dichte. So wie im Zentrum auch gewohnt wird, so ist in der Gesamtstadt die Dichte notwendiger Garant sparsamen Flächenverbrauchs. Fühlungsvorteile und Erreichbarkeiten sind größer, je dichter die Bebauung ist, je enger die Menschen beieinander sind. Auch die ÖPNV-Haltestelle kann umso leistungsfähiger sein, je mehr Fahrgäste in unmittelbarer Nähe sind. Nur die Auto-Erreichbarkeit verlangt das Auseinanderrücken - und senkt damit die Gesamterreichbarkeit. Damit bereichert das Auto den Bewohner nur dann, wenn es in so geringem Maße benutzt wird, daß es urbane Dichte, einschließlich dazugehöriger urbaner Freiflächen, nicht beeinträchtigt. Diese Begrenzung des Autoverkehrs ist eine der Rechtfertigungen der Existenz von Planungsrecht und Planungsbehörden.

Mangelnde städtebauliche Mischung: Unökonomische Infrastruktur; Straßen, Parkplätze und Busse unausgelastet

"Stadt" heißt weiterhin kleinteilige Mischung. Keine Einzelfunktion, -fläche oder -anlage darf für sich genommen zu groß werden. Straßen, Parkplätze, Bushaltestellen müssen von Bewohnern, Berufs- und Ausbildungspendlem, von Kunden und Freizeitbesuchern überlagernd genutzt werden. Nur so sind sie im Tages-, Wochen- und Jahresverlauf bestmöglich ausgenutzt - also ökologisch und ökonomisch sinnvoll. Ein Parkplatz und eine Signalanlage, die von den 170 Stunden einer Woche 50 Stunden nur teilweise und nur 10 Spitzenstunden vollständig genutzt werden, sind eine ungeheure öffentliche Verschwendung - zu Lasten der Kaufkraft der Bürger und damit auch zu Lasten des Einzelhandels. Politik und Planung müssen derartige Verschwendung vermeiden.

Mangelnde städtische Öffentlichkeit: Gefahr von Ausgrenzung und Vandalismus

"Stadt" heißt schließlich Öffentlichkeit der Straßen. Zugänglichkeit für alle Bürger und Teilnahme städtischer Funktionen an allen Bürgern (und umgekehrt) ist Wesen der Stadt, ihrer Freiheit, ihrer Offenheit. Austausch und Handel bedürfen dieser Freiheit. Der Raum dafür ist die Straße, der Boulevard. Überläßt man die Straße dem Auto, und zu große Grundstücke dem Hausrecht der Eigentümer, schwindet die Öffentlichkeit: Teile der Gesellschaft werden ausgegrenzt; Auto und Kreditkarte werden zum Paßersatz, die Kosten der Überwachung der Ausgegrenzten und die sozialen Folgekosten werden untragbar. Statt über Kaufkraft kann man an dieser Stelle auch über Zukunftsfähigkeit oder über Humanismus diskutieren.

Kommunale Organe haben die primäre Aufgabe, die städtische Öffentlichkeit zu bewahren - als zentrales Streitfeld für Konfliktlösungen in der europäischen Tradition. Dafür müßten sie notfalls auch die letzten drei Prozent Verbilligungspotential der materiellen Versorgung unbenutzt lassen.

Sinkende Gesamtkaufkraft durch zunehmenden Aufwand für Autoverkehr

Wenn man einmal pro Kunde echte Kosten für zwei Stunden Parkplatz (=DM 5,00) und zweimal zehn km Autostrecke (= DM 20,00) kalkulieren würde, dann hat er zu den geschätzten DM 100,00 Einkauf 25 % Zusatzkosten für den Weg. Dazu muß man eine Stunde Autofahrt rechnen - jeder mag die nach eigenem Stundensatz abschätzen. Bescheidene 25,00 DM/Std. führen zu dem Ergebnis: Von DM 150,00 Kaufkraft bleiben dem Einzelhändler nur DM 100,00; der Rest sind Autokosten. Dabei sind die - in der Höhe umstrittenen - nicht gedeckten Direkt-, Sozial- und Umweltkosten des Autos noch nicht mitgerechnet. Je mehr auch der alltägliche Einkauf auf große Entfernungen mit dem Auto angewiesen ist, umso geringer wird der Gesamtumsatz des Einzelhandels. Nur urbane Logistik für Kunden und Waren vermag das Verhältnis umzukehren. Die Menge des Personenverkehrs plant weitgehend die Stadt; Anlieferung und Waren Verteilung sollte eine kreative Aufgabe für die Händler werden.

Abwerbung statt Leistungsverbesserung bringt keine Versorgungsvorteilefür Kunden und Bürger

Die Marktwirtschaft setzt auf Konkurrenz. Der Einzelhändler, der sich bemüht, der Bessere zu sein, gewinnt den Kunden. Dem nützt das aber nur, wenn sein neuer Händler besser ist, als sein alter Händler vorher war. Wenn alle Händler nur ihren Aufwand für Werbung und Entfernung vergrößern, wenn sie zuviel Geld im Konkurrenzkampf verschleißen und Produkte und Serviceniveau insgesamt dadurch im gleichen Maß schlechter werden, dann stellt sich eine solche Art Markt selbst in Frage. Das suburbane Fachmarktzentrum führt zu schlechterer Versorgung. Wenn die Anbieter das erkennen, sollten sie Rahmenbedingungen fordern: möglichst in eigener Kooperation, notfalls aber auch von Stadt und Staat. Kostenexternalisierung rechtfertigt nicht die notwendigen Unternehmerfreiheiten.

Die bessere Lösung für Qualitätsgüter: Urbanität statt Drive-in-Mall

Dichte, gemischte Stadtteile mit öffentlichen Straßen und Boulevards, verkehrsberuhigt und mit höchsten Anteilen von Fußgänger-, Rad- und Öffentlichem Verkehr, bieten beste Ladenstandorte für alle Waren, die der Kunde persönlich mit dem Händler besprechen, anschauen, vereinbaren will. Das sind auch die Waren, bei denen der 100,00-DM-Umsatz meist bequem zu Fuß oder im Bus transportierbar ist. Für die Ausnahmen darf und sollte der Parkplatz da sein – aber teuer, damit er nicht mißbraucht wird. Diese lebendige Urbanität gestattet mehr Erlebniseinkauf als jede amerikanisch-künstliche Mall. So kann auch das Subzentrum und die Vorstadt städtisch sein; mit höchster Naherreichbarkeit und hochvernetzt mit Öffentlichem Verkehr für entferntere Kunden für Spezialangebote in anderen Subzentren.

Die bessere Lösung für die Standardversorgung: Fernbestellung, besucherarme Außenstandorte, Hochleistungslogistik mit Lkw und Pkw

Die Tradition des Städtischen als Markt sperrt sich aber schon aus Platzgründen der übergroßen Warenmenge, die der Städter heute insgesamt umsetzt. Aber nicht für alle Waren braucht der Kunde den direkten Händlerkontakt. Und nicht immer braucht er den spontanen Warenbesitz.

Publikumsarm können außerhalb der Stadt qualitätsgesicherte Standardwaren abgewickelt werden. Windeln, Markenlebensmittel, immer wiederkehrende Arbeitsmittel und vieles andere kann spontan fernbestellt werden (Multimedia) und einem raffinierten Logistikfahrplan, der höchst ökonomisch und ökologisch innerhalb 24 Stunden liefert, unterworfen werden. Dies eröffnet neue Felder der Beratung, Qualitätssicherung, Logistik und Kundenbetreuung für den Einzelhändler; er kann damit zusätzlich das Geld verdienen, das sonst die Autobranche verdient.

Dazu muß auch der Einzelhändler außerhalb der Stadt seine (wenigen) Parkplätze teuer machen; dann lohnt sich der Privattransport erst, wenn drei Pkw-Insassen je DM 300,00/Einkauf umsetzen. So verwendet, ist auch der Pkw, der Kombi, der Mini-Van ökonomisch und ökologisch sinnvoll.

Als Standort kommen eher weiter abgelegene Standorte in Frage. Das "Weichbild" der Stadt wird dringend zur Naherholung und zum ökologischen Ausgleich benötigt; dort liegen die Reserveflächen für urbane Erweiterungen.

Großgeräte und Möbel, für die man Beratung wünscht, sind dabei wohl teilweise urban anzusiedeln; zwar nehmen sie viel Fläche in Anspruch, aber es reicht Kunstlichtfläche und die resultierende Menschendichte ist auch eher städtisch als suburban. Hierfür ist der Außenstandort nur dann zweckmäßig, wenn der Pkw oder der Mini-Van vollgeladen wird.

Die bessere Lösung für stadtnahe Grundstücke: Städtische Bebauung, auch an der Autobahn

Unmittelbare Randlagen dürfen grundsätzlich nicht eingeschossig und monofunktional mit Parkplätzen verschenkt werden. Sonstige Gewerbe, Büros, Gastronomie, Diskotheken, Kinos bieten Ergänzungen zu den üblichen Anfragen nach großflächigem Einzelhandel. Mit geschickter städtebaulicher Planung läßt sich Straßenlärm abschirmen, Straßen - auch Hauptstraßen - als städtische Boulevards einbinden. Dabei darf keine "halbprivate" Mall Attraktivität aus der Öffentlichkeit der Straße abziehen. Ein - notfalls geringer - Wohnanteil ist unverzichtbar im Blickfeld und Einzugsbereich der sonstigen Bebauung. Tiefgaragen rechnen sich, weil sie rund um die Uhr ausgenutzt sind; ÖPNV-Halte können höchsten Bedienungsstandard erhalten, weil sich die Bebauung um den Haltepunkt konzentriert. Und dabei ist es fast nachrangig, ob eine Verkaufsfläche von vielleicht 20.000 qm in zwei oder vier Blocks oder auf ein oder zwei Geschosse verteilt wird: gelegentlich erlaubt bewegtes Gelände den ebenerdigen Zugang zu mehreren Geschossen. Stadtnah bauen muß heißen städtisch bauen - zu wertvoll ist der Grund, als daß man ihn zu einem Baustein verringerter Erreichbarkeit machen sollte.

FAZIT:

Eine autogerechte Planung für Einzelhandelsbetriebe läßt wachsenden Zeit- und Kostenaufwand für Autofahrten erwarten, der die Kaufkraft der Kunden schwächt, ohne daß Versorgungsvorteile eintreten. Damit würden sowohl die unmittelbaren Ziele des Einzelhandels verfehlt, als auch allgemeine Zielsetzungen der Stadtentwicklung wie hohe Erreichbarkeiten, nachhaltige Entwicklung u.a.. Nicht Suburbanität, sondern Urbanität ist Voraussetzung des ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Erfolges der Europäischen Stadt. Natürlich kann man Stadtmarketing betreiben, seine Stadt vermarkten und verkaufen. Die - auch und vor allem ökonomisch - erfolgreichen Standorte werden in Zukunft die sein, die das Kapital Stadt erhalten und städtisch pflegen und weiterentwickeln.





Manuskript

Kassel Februar 1996